Aus "Gymnasium in Niedersachsen" Nr. 2/2002
Was folgt aus PISA?
Von Thelma von Freymann
Finnland erstreckt sich von 60° N bis 70° N und hat auf einer Fläche von 337 000 qkm 5,1 Mill. Einwohner. Diese verteilen sich extrem ungleichmäßig: 1,5 Mill. wohnen im Ballungsgebiet an der Südküste. Dort entspricht die Bevölkerungsdichte mitteleuropäischen Verhältnissen. Im Binnenland kommen auf den qkm rund 16 Einwohner, in Nordlappland 0,7. Dazwischen gibt es alle Varianten.
Das Land ist offiziell zweisprachig (Finnisch und Schwedisch) und muss das gesamte Bildungswesen in doppelter Ausführung vorhalten. Außerdem gibt es die sprachliche Minderheit der Saamen (früher Lappen genannt), die Anspruch darauf haben, den Abituraufsatz auf Saamisch schreiben zu dürfen. Der Ausländerquotient beträgt landesweit 2 %, jedoch wohnen Ausländer fast nur im Ballungsraum "Süd".
Die Staatskirche ist evangelisch-lutherisch, es gibt aber zahlreiche Freikirchen, dazu russisch-orthodoxe Christen sowie alteingesessene Minderheiten von Juden und Moslems.
Für das Schulwesen ist das religiöse Bekenntnis nicht relevant, die Sprache aber in hohem Maße.
Die Einwanderung, vor allem aus Russland ("finnischstämmige", analog den Aussiedlern bei uns) ist im Steigen begriffen.
Seit dem 6. Dezember sind die PISA-Ergebnisse landauf landab kommentiert und aus der Diskrepanz zwischen den finnischen und den deutschen Werten hauptsächlich zwei Schlüsse gezogen worden, nämlich:
1. Das finnische Einheitsschulsystem ist effektiver als das gegliederte deutsche.
Letzteres sollte abgeschafft und flächendeckend durch Gesamtschulen ersetzt werden.
2. Die finnischen Lehrkräfte geben besseren Unterricht als die deutschen.
Letztere sollten durch intensive Weiterbildung nachqualifiziert werden.
Wer solche Schlüsse zieht, kann kein Finnisch und weiß nicht, wie das finnische System funktioniert:
Tatsächlich würde die flächendeckende Einführung von Gesamtschulen deutschen Typs
in keiner Weise "finnische Zustände" herbeiführen, und
tatsächlich geben finnische Lehrkräfte weitgehend einen Frontalunterricht,
mit dem kein deutscher Lehramtsanwärter vor einer Prüfungskommission bestünde.
In vielen finnischen Klassen steht immer noch das Katheder auf dem Podium, das hierzulande nur noch in Schulmuseen zu besichtigen ist, und die Schüler sitzen an Einzelpulten, die nach vorn ausgerichtet sind und sich nicht dazu eignen, zu einer Arbeitsfläche für Gruppenarbeit zusammengerückt zu werden. Die gesamte Reformpädagogik ist an der finnischen Lehrerausbildung vorbeigegangen. Warum dies so ist, lässt sich im Rahmen dieses Beitrags nicht darlegen. Die Frage bleibt: Wenn es weder am Schulsystem noch an der Unterrichtsqualität liegt, dass Finnland bei PISA so viel besser abschnitt als Deutschland, woran liegt es dann?
Zunächst einmal an einer Reihe von sozio-kulturellen Bedingungen, die den meisten Kommentatoren entgehen. Die wichtigsten seien hier kurz skizziert:
1. Die phonetische Struktur der finnischen Sprache erlaubt eine praktisch lautsprachliche
Orthographie. Die Decodierleistung, die man beim Lesen von Sprachen wie Deutsch oder
Englisch aufbringen muss, entfällt. Finnische Kinder werden Mitte August eingeschult und
können normalerweise zu Weihnachten fließend lesen - nicht, weil im Unterricht das
methodische Ei des Kolumbus zelebriert würde, sondern schlicht, weil es so leicht ist,
Finnisch zu lesen.
2. Filme und Fernsehbeiträge aus dem Ausland werden nicht synchronisiert, sondern untertitelt. Jedes Kind, das vor der Glotze sitzt, trainiert automatisch schnelles und sinnerfassendes Lesen, wenn es verstehen will, was die Figuren auf der Mattscheibe sagen.
3. Jedes Kind ausländischer Muttersprache bekommt eine der beiden Landessprachen beigebracht, ehe es in einer normalen Klasse sitzen darf. Es gibt nirgends Schüler, denen die Lehrkraft ein Übermaß an Zeit und Kraft widmen muss, weil sie dem Unterricht aus sprachlichen Gründen nicht folgen können. Was dies für das Unterrichtsniveau nicht nur im Fach "Muttersprache" sondern auch in Mathematik und Naturwissenschaften bedeutet, bedarf keiner Erläuterung.
Die wichtigste Ursache für den Lernerfolg ist jedoch die innerschulische Förderung schwacher Schüler. Eine voll ausgebaute Schule hat normalerweise für je drei Klassen eine Speziallehrkraft (Spl) mit entsprechender Ausbildung, die mit ihrer vollen Arbeitszeit dafür da ist, Schüler, die Schwächen zeigen, sofort aufzufangen. Größere Defizite sollen gar nicht erst entstehen; es gibt kein Sitzen bleiben. Die Spl für die ersten drei Klassen hat auch eine logopädische Ausbildung. Im dünn besiedelten Finnland gibt es keine Sonderschule L, hierzulande als "lernbehindert" diagnostizierte Kinder gehören zur Klientel der Spl, aber nicht nur sie - im Durchschnitt erhalten rund 17 % der Schüler eines jeden Jahrgangs für kürzere oder längere Zeit im Laufe des Schuljahres Einzel- oder Kleingruppenunterricht bei der Spl. Dieser kann in der finnischen Ganztagsschule natürlich nur im Rahmen des Schultages stattfinden und wird nicht etwa am späten Nachmittag "angehängt".
Dieses Fördersystem könnte man für alle Grund- und Hauptschulen in Deutschland relativ kurzfristig einführen - wenn denn der politische Wille dazu vorhanden wäre. Schon ein einziger Durchlauf an ein paar Versuchsschulen erbrächte mit Sicherheit am Ende der vier Grundschuljahre einen signifikant verbesserten Lernstand insbesondere der Schwachen.
Zum System: Die erste Schule für alle finnischen Kinder ist die ala-aste. Sie dauert 6 Jahre. Die erste Fremdsprache beginnt spätestens in Klasse 3 (falls die Eltern es wünschen, kann dies aber auch schon in Klasse 1 geschehen), die zweite in Klasse 5. Erst in der nächsten Schule, der dreijährigen ylä-aste, kommt ab Klasse 7 die dritte. Drei sind im Abitur Pflicht, weitere wahlfrei. Am Ende der ylä-aste ist die 9jährige Schulpflicht erfüllt. Jeder Schüler, der am Unterricht teilgenommen hat, erhält das Abschlusszeugnis. Wer Abitur machen will, geht danach auf eine lukio, eine jahrgangslose kursorganisierte Kollegstufe, die man in 2 - 4 Jahren durchläuft, je nach Begabung und Fleiß. Das Zentralabitur besteht ausschließlich aus schriftlichen Prüfungen, bei denen man durch zusätzliche Sprachen Punkte gewinnen kann. Die braucht, wer einen Studienplatz möchte. Das Abitur als solches impliziert keinen Rechtsanspruch auf einen Studienplatz. Auch wer nicht Abitur macht, erhält am Ende der lukio ein Kollegstufenabschlusszeugnis.
Jede Schule ist verpflichtet, ihr eigenes curriculares Profil auszuweisen und zu realisieren, und hat das Recht, ihre Lehrkräfte selbst einzustellen (und auch zu entlassen; Lehrer sind nicht Beamte). Der entscheidende Punkt dabei ist die Sprachenfolge: Sie ist nicht festgelegt. Jedes Kind muss die jeweils andere Landessprache und Englisch lernen. Aber in welcher Reihenfolge diese beiden und die Wahlsprachen angeboten werden, entscheidet jede Schule selbst. Mehrzügige Schulen können in Klasse 3 auch nebeneinander z.B. die andere Landessprache, Deutsch und Englisch anbieten. Da die Schulwahl frei ist, liegt auf der Hand, wie sich dies auswirkt: Ein Kind, das schon früh eine ausgeprägte Sprachbegabung zeigt, werden bildungsbewusste Eltern selbstverständlich mit einer der schweren Sprachen beginnen lassen - Deutsch , Französisch oder Russisch - und ihm die Möglichkeit offen halten, später Italienisch (oder Japanisch oder...) zuzuwählen. Und umgekehrt: Zeigt sich in den ersten zwei Schuljahren, dass ein Kind schon mit der Muttersprache Schwierigkeiten hat, bietet sich als erste Fremdsprache Englisch an, das ja vergleichsweise leicht ist.
Auf jeden Fall sind die scheinbar - nämlich der Form nach - so einheitlichen Schulen in Wirklichkeit ganz extrem verschieden. Und jede schickt in einem Ballungszentrum wie Helsinki allen Eltern von Zweitklässlern vor Weihnachten ihren Schulprospekt, damit diese entscheiden können, auf welche Schule ihr Kind ab Klasse 3 gehen soll. Nicht alle Eltern werden die gesammelten Prospekte überhaupt durchstudieren - ich habe es einmal getan, es ist wirklich mühsam! -, viele lassen ihr Kind einfach auf der Schule, die der Wohnung am nächsten liegt. Insbesondere gilt dies, wenn den Eltern ein spezielles Angebot für ihr Kind so wichtig gar nicht ist, sondern am Ende der Pflichtschulabschluss genügen soll. Aber an bestimmten Schulen sammelt sich natürlich eine bestimmte Klientel. Das Resultat sind de facto Hochleistungszentren, die zwar nicht als solche firmieren - wenn Sie finnische Schulbehörden nach Eliteschulen fragen, versichert man Ihnen, dass im Lande der Gleichheit einfach alle Schulen gut sind, was nicht einmal falsch ist - jedoch unter denen bekannt sind, die ihren begabten Kindern die bestmögliche Förderung zuteil werden lassen wollen.
Außer der Sprachenfolge gibt es auch andere Profile. Die Minerva-Schule etwa nimmt nur Kinder, die eine Gehörprüfung vor Klasse 3 bestehen; es gibt dort 5 Wochenstunden Musik. Die Eishockeyzubehörindustrie sponsert in Espoo eine Schule für die künftigen Weltmeister und stellt ihr rund ums Schuljahr eine Eishockeyhalle zur Verfügung, vom nötigen "Kleinzeug" nicht zu reden. Mathematisch-naturwissenschaftlich Begabte können sich in der von Nokia gesponserten Schule in Salo (Firmensitz) bewähren und, wenn sie gut genug sind, unmittelbar nach der Schule eine lukrative Stelle in der Firma antreten. Dies sind nur Beispiele. Letztere allerdings ganz offiziell existierende: Von Nokia hängt Finnlands Exportquote ab, und Eishockey ist nicht die schönste Nebensache der Welt, sondern die Hauptsache. Wenigstens für die männliche Hälfte der finnischen Bevölkerung. Da darf es sogar Eliteschulen geben.
Wie sich von selbst versteht, gibt es eine breite Schulwahl nur in dicht besiedelten Gebieten. Wo nur eine einzige Schule überhaupt erreichbar ist - und dies kommt im finnischen Binnenland natürlich oft vor - müssen die Eltern nehmen, was sich bietet. Demographisch bedingte Probleme haben jedoch nichts mit der Systemfrage zu tun - auch in Deutschland kann man nicht von jedem Dorf aus bequem ein Gymnasium erreichen.
Wer also die deutsche Schullandschaft ausschließlich mit Gesamtschulen zu bestücken will, möge laut und deutlich erklären, dass er zugleich für curriculare Autonomie der Schulen eintritt, insbesondere bezüglich eines breiten und in der Reihenfolge nicht festgelegten Sprachenspektrums in Absprache mit den Eltern, für freie Schulwahl der letzteren und für das Recht der Schulen, ihre Lehrkräfte selbst auszuwählen und einzustellen, sowie - dies vor allem! - für die flächendeckende Einführung des finnischen innerschulischen Fördersystems.
Will er all dieses nicht, wird eine deutsche Gesamtschullandschaft keinerlei Ähnlichkeit mit der finnischen aufweisen. Es besteht nicht der mindeste Grund zu der Annahme, dass Kinder und Jugendliche in Gesamtschulen herkömmlicher deutscher Machart dann plötzlich lernen würden wie die finnischen. Warum sollten sie?!
Literatur
Die obigen Ausführungen sind notgedrungen nur skizzenhaft. Wer eine gründliche Darstellung des finnischen Schulsystems mitsamt demographischen und historischen Voraussetzungen sucht, findet sie unter dem ersten Titel. Der zweite enthält eine ausführliche, auch die organisatorischen Probleme erfassende Darstellung des innerschulischen Fördersystems. Die drei Artikel von Heike Schmoll, aus Recherchen vor Ort hervorgegangen, sind trotz kleiner Fehler im Detail mit Abstand das Gründlichste und Zuverlässigste, was in einer großen deutschen Zeitung über Finnland in Sachen PISA erschienen ist, und für jeden, der in rein fachlichen Beiträgen wie diesem "Farbe" vermisst, wärmstens zu empfehlen.
Thelma von Freymann: Schule an der europäischen Peripherie - Bildungs- und Sprachenpolitik in Finnland, in: Zeitschrift für internationale erziehungs- und sozialwissenschaftliche Forschung, 1998/1, S. 121 - 143
- dies., Anderswo ist alles anders - sonderpädagogische Förderung in Finnland, in: Sonderpädagogik in Niedersachsen 1996/3-4, S. 41 - 47
Heike Schmoll: Die Finnen wissen, wo das Gleichheitsprinzip seine Grenzen hat - die bildungspolitischen Strategien der Pisa-Sieger, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9./10.2.2002 S. 3
- dies.: Finnische Lesekultur, in: FAZ vom 14.2.2002
- dies.: Selbständigkeit und frühe Förderung, in: FAZ vom 21.2.2002 S. 8
Zur Person der Autorin:
Thelma von Freymann wurde 1932 in Helsinki, Finnland, geboren. Ihre Schulzeit verteilte sich auf Finnland, Schweden, Deutschland und die Schweiz. 1961 - 1965 unterrichtete sie als Studienassessorin an der St. Ursula-Schule in Hannover. 1975 - 1995 gehörte sie - zuletzt als Akademische Oberrätin - dem Lehrkörper der Universität Hildesheim (Institut für Angewandte Erziehungswissenschaft und Allgemeine Didaktik) an und ist seit 1995 im Ruhestand.
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