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Aus: Zeitschrift "Freiheit der Wissenschaft", 2/2002, Juni 2002
Zur Binnenstruktur des
finnischen Schulwesens

Von Thelma von Freymann

Mit Befremden, ja Bestürzung verfolge ich, Finnländerin von Geburt, die Kommentare der deutschen Medien zum PISA-Erfolg Finnlands und die Schlußfolgerungen, die aus diesem Erfolg gezogen werden. Die entscheidenden Faktoren werden meist ignoriert, wenn aber überhaupt angesprochen, dann ungenau dargestellt oder so beiläufig erwähnt, daß keinem deutschen Leser ihr zentraler Stellenwert als Ursachen der finnischen Lernergebnisse klar werden kann. Es ist das Ziel dieses meines Beitrags, die wichtigsten dieser bisher vernachlässigten Faktoren in die Diskussion einzuführen.

Aus dem guten Abschneiden Finnlands sind im wesentlichen zwei Schlüsse gezogen worden: - Das finnische Schulsystem sei als solches effektiver als das dreigliedrige deutsche. Deshalb sei letzteres abzuschaffen und ein Gesamtschulsystem einzuführen. - Der von finnischen Lehrkräften gegebene Unterricht sei besser als der hierzulande übliche. Deshalb sei Lehrerfortbildung zu forcieren.

Wer so argumentiert, kann kein Finnisch und weiß nicht, wie Schule in Finnland funktioniert.

Das allgemeinbildende Schulsystem in Finnland

Schulträger sind in der Regel die Gemeinden. Die Schulen haben eine sehr weitgehende Autonomie, sogar in Bezug auf den Lehrplan. Lehrkräfte sind nicht Beamte, sie werden zu einem großen Teil nach Bedarf eingestellt und entlassen. 40 % aller finnischen Schulen haben weniger als 50 Schüler, 60 % haben weniger als sieben Lehrkräfte. Über 500 Schüler haben ganze 3 % aller Schulen. Schon daraus erklärt sich der finnische Erfolg zu einem guten Teil: Gerade die lernschwächeren Kinder gedeihen in einer intimen Lernumwelt weit besser als in einer anonymeren.

Die Schulpflicht beginnt im Jahr des siebten Geburtstages und endet mit der 9. Klasse. Es gibt keine Sonderschulen L. Sitzenbleiben gibt es de jure noch, es wird aber nur in extremen Ausnahmefällen verhängt und spielt für die Statistik keine Rolle. Das Schuljahr beginnt Mitte August und endet in den ersten Junitagen, die Sommerferien dauern also zweieinhalb Monate. Die Schulwahl ist frei, niemand muß sein Kind in die nächstgelegene Schule schicken, wenn er eine andere für besser hält.

Die erste Schulform ist die 6jährige Unterstufe. Davon gibt es landesweit ungefähr 3000. Die Klassenlehrerin unterrichtet meist alle Fächer außer den Fremdsprachen.

Die zweite Schulform ist die 3jährige Oberstufe (Schuljahre 7 - 9). Davon gibt es landesweit ungefähr 600. Den Unterricht erteilen Fachlehrer.

Diese beiden Schulformen sind normalerweise institutionell getrennt. Beide unter einem Dach gibt es nur in Ballungsregionen und auch dort so selten, daß sie statistisch nicht ausgewiesen werden. Zusammen machen die beiden Schulformen die peruskoulu aus - wörtlich: die "Grundschule". Diese wird in den deutschen Medien meist "Gesamtschule" genannt, obwohl eine deutsche Gesamtschule die Jahrgänge 5 - 13 führt, nicht 1 - 9. Außerdem kann letztere mehr als tausend Schüler haben und dann auch weit mehr als hundert Lehrkräfte - aus der Sicht finnischer Pädagogik die reine Barbarei. Die in Deutschland irreführenderweise "Gesamtschulen" genannten finnischen Schulen sind dermaßen anders als deutsche Gesamtschulen, daß die Verwendung eines und desselben terminus technicus für beide Schulgestalten völlig falsche Vorstellungen einschleift. Aus diesem Grunde habe ich selbst den gängigen Sprachgebrauch nicht übernommen.

Die dritte Schulform ist die lukio. Davon gibt es landesweit ungefähr 400. Sie führt keine Jahrgangsklassen, sondern arbeitet mit einem reinen Kurssystem. Je nach Begabung, Fleiß und angestrebtem Notendurchschnitt kann man das Abitur nach zwei, drei oder vier Jahren ablegen. Dabei handelt es sich um ein scharfes Zentralabitur, bei dem nicht nur die Aufgaben zentral gestellt, sondern auch die Arbeiten der Prüflinge zentral korrigiert werden. Ihre eigenen Lehrkräfte haben keinen Einfluß auf die Zensuren.

Der Notendurchschnitt ist von entscheidender Bedeutung, wenn man studieren will, denn das Abitur als solches begründet keinen Anspruch auf einen Studienplatz. Wenn das Zeugnis gut genug ist, kann man sich um einen solchen bewerben. Ob man ihn bekommt, entscheidet allein der zuständige Fachbereich an der Universität. Die Zahl der Studienplätze richtet sich nach der Gesamtkapazität des Lehrkörpers im Fachbereich. Die Überfüllung von Lehrveranstaltungen als Ausweg aus dem Kapazitätsdilemma steht außerhalb jeder Diskussion: Sie ginge ja auf Kosten der Ausbildungsqualität. In dem Studiengang, der dem hiesigen "für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen" entspricht, bekommen normalerweise etwa 30 % der Bewerber einen Platz.

Das Schulpersonal

Zum Personal einer jeden Schule gehören nicht nur Schulleitung, Klassenlehrerinnen und -lehrer sowie Fachlehrkräfte. Die nachstehend Genannten müssen mindestens einen Tag wöchentlich in der Schule präsent sein, und sei sie noch so klein. In großen Schulen sind sie es täglich.

1. Eine Schulschwester. Sie ist ihrer Grundausbildung nach Krankenschwester, hat aber eine Zusatzausbildung für vorbeugende Gesundheitsarbeit. Das Berufsbild ist in Deutschland unbekannt.

2. Eine Kuratorin. Sie hat eine sozialpädagogische Ausbildung und ist für alle Probleme zuständig, die "sozialer" Natur sind. Gibt es z.B. in einer Klasse Konflikte zwischen zwei Cliquen, ist es nicht Sache der Klassenlehrerin, sich damit zu befassen. Sie schickt die Betreffenden zur Kuratorin, deren Kompetenz u.a. gruppentherapeutische Methoden umfaßt. Auch bei Problemen, die man nur in Kooperation mit dem Elternhaus angehen kann - z.B. Schwänzen - ist die Kuratorin zuständig, nicht die Lehrkraft.

3. Eine Psychologin. Oft gehen Kinder von sich aus zu ihr, nicht auf Grund einer Überweisung durch die Klassenlehrerin. Ein unter Schweigepflicht stehender Erwachsener, der Zuwendung und Kompetenz einbringt, mit dem man also über seine Probleme offen reden kann, ist für viele Kinder und Jugendliche ungeheuer wichtig. Die Klassenlehrerin hat dafür nicht einmal die Zeit, die ein "Klient" braucht, von der Qualifikation gar nicht zu reden. Selbstverständlich kann die Schulpsychologin keine Psychotherapie im eigentlichen Sinn des Wortes leisten, aber sie ist für individualpsychologische Probleme zuständig. Beispiel: Eine gute Schülerin sackt in ihren Leistungen plötzlich ab. Sie ist nicht imstande, sich auf den Unterricht zu konzentrieren: Ihr Bruder hatte einen schweren Unfall und liegt für lange Zeit im Krankenhaus. Dieses Mädchen braucht nicht Lernhilfe, sondern Unterstützung bei der Verarbeitung ihres Kummers. Wenn sie die bekommt, wird sie sich auch wieder auf Lernprozesse einlassen können.

4. Eine Speziallehrerin. Ihre Ausbildung sieht folgendermaßen aus: Zuerst Klassenlehrerin, mindestens zwei Jahre Schulpraxis nach beendeter Ausbildung, dann ein Jahr an der Universität mit einem extrem intensiven Lehrplan, der von den physiologischen Grundlagen über diagnostische Kompetenz bis hin zu einer differenzierten Methodenpalette alles vermittelt, was sie für ihre Aufgabe braucht. Diese besteht darin, für die Schwachen unter den Schülern zu sorgen. Wenn ein Kind im Klassenunterricht nicht richtig mitkommt, wird sie erst einmal in die Klasse gerufen, beobachtet, was da läuft, und berät die Klassenlehrerin. Ggf. übernimmt sie dann das Kind für bestimmte Stunden und gibt ihm gezielten Einzelunterricht oder Kleingruppenunterricht in den Inhalten bzw. Verfahren, die es nicht bewältigt. Oft hat es nach kurzer Zeit wieder den Anschluß an die Klasse.
Das ursprüngliche Organisationsmodell sah für je drei Klassen eine Speziallehrerin vor. Heute ist die Wirklichkeit davon recht weit entfernt, hauptsächlich, weil es an Lehrerinnen und Lehrer mit Spezialausbildung mangelt, aber z.T. auch aus finanziellen Gründen.

5. In Schulen mit größeren Lerngruppen gibt es eine unbestimmte Anzahl von Assistenten, die keine Ausbildung haben und auf Stundenbasis arbeiten. Das können z.B. Abiturienten sein, die auf einen Studienplatz warten, oder Hausfrauen, die ihren Beruf nicht ausüben. Sie arbeiten nicht eigenverantwortlich und sind kein Ersatz für eine fehlende Speziallehrerin, dennoch aber eine große Entlastung für die Klassen- oder Fachlehrerin.

6. "Küchenpersonal". In jeder Schule gibt es Küche und Speisesaal. Die Kinder bekommen täglich eine volle Mahlzeit.

Die Förderung der schwachen Schüler

Gelingt es nicht, Lernprobleme mit einer beschränkten Zahl von Stunden bei der Speziallehrerin zu beheben, schreibt das Gesetz vor, daß die Spezialkonferenz sich des Falles annimmt. Diese tagt einmal monatlich und besteht aus der Schulleitung, der Klassenlehrerin, ggf. der Fachlehrerin, allen oben unter 1. - 4. genannten Mitgliedern des Kollegiums sowie dem Schularzt. Zunächst ist zu klären, ob den Lernproblemen des Kindes gesundheitliche Störungen zugrunde liegen. Wenn ja, ist der Schularzt zuständig, und die Eltern werden informiert. Ist das Kind nicht in diesem Sinne krank, sucht die Konferenz weiter nach den Ursachen seiner Lernprobleme und entwirft einen Plan, wie ihm zu helfen sei. Nach vier Wochen steht der Fall erneut auf der Tagesordnung. Die Frage heißt: Haben die Maßnahmen "gegriffen"? Wenn nicht: Wie soll es weitergehen? Eine Möglichkeit ist z.B., daß für dieses Kind ein eigener Lehrplan erstellt wird. Dann sind nicht alle Lernziele der Klasse auch seine individuellen Lernziele.

Kooperation der Eltern ist dringend erwünscht. Verweigern sie aber diese, muß die Schule eben ohne auskommen. Auf keinen Fall darf sie einen Schüler im Stich lassen, der zu seinem Unglück uneinsichtige Eltern hat. Rechtssubjekt ist hier das Kind, es hat einen gesetzlich festgeschriebenen Anspruch darauf, daß seinem Bedarf an Aufmerksamkeit, Förderung, Stützung Rechnung getragen wird. Der Fall Robert Steinhäuser ((Erfurt)) wäre in Finnland nicht denkbar: Lange vor Eintritt der Katastrophe wäre ein solcher Schüler ins Visier der Spezialkonferenz geraten.

Die innersystemische Diversifikation

Für das Schulsystem insgesamt gilt, daß es zwar für ausländische Beobachter, die keine der beiden Landessprachen verstehen, nach Gleichheit aussieht, daß dies aber eine Art optischer Täuschung ist. In Finnland ist jede Schule verpflichtet, dem örtlichen Bedarf entsprechend ihr eigenes Schulprofil zu entwerfen und zu realisieren. Den Lehrplan entwickelt - im Rahmen sehr "weitmaschiger" Vorgaben - jedes Kollegium selbst.

Dies führt dazu, daß die Unterschiede zwischen den rein formal gleichförmigen Schulen viel größer sind als die Unterschiede zwischen Schulen gleicher Schulart in Deutschland. Die Ergebnisse der neuesten landesweiten Evaluierung von Schulen wurden am 11.5.2002 publiziert und in der finnischen Presse weit intensiver diskutiert als die PISA-Ergebnisse. Die Schüler konnten maximal 100 Punkte erlangen. In manchen Schulen lag der Durchschnittswert bei 85 Punkten, in anderen bei 40 Punkten. Eine bestimmte Leistung wird in einer anspruchsvollen Schule mit 6 bewertet, d.h. auf der siebenstufigen Skala (4 - 10) um zwei Noten über "durchgefallen", in einer anspruchslosen Schule wird aber dieselbe Leistung mit 9, also der zweithöchsten Note, belohnt. Und in dieser Differenz kommt nicht etwa ein Gefälle zwischen Stadt und Land zum Ausdruck; zwar gibt es ein solches Gefälle, es ist aber so gering, daß es schulpolitisch keinen Anlaß zu Sorgen bietet. Nein: Das kritische Gefälle zeigt sich zwischen Schulen in größeren Städten bzw. in Ballungsgebieten, dort, wo es so viele Schulen gibt, daß man zwischen unterschiedlichen Profilen eine echte Wahl hat. Die hierzulande weitverbreitete Vorstellung, daß finnische Schulen mit Hilfe binnendifferenzierender Unterrichtsmethoden in sich ausgesprochen heterogene Klassen bedienen, ist also falsch. Die Schülerströme in Ballungsgebieten sortieren sich auf Grund der curricularen Profilierung, dem Fremdsprachenangebot und der freien Schulwahl so, daß manche Schulen mehr oder weniger einem deutschen Gymnasium entsprechen (und das schon spätestens ab Klasse 3, nicht etwa erst ab Klasse 5!), andere eher einer deutschen Hauptschule. Soviel zum Stichwort Gesamtschule!

Das Zentralamt für Unterrichtswesen hat vor, in den nächsten Jahren Richtlinien für die neun Jahre der Schulpflicht zu erlassen und so die curriculare Selbständigkeit der Schulen einzuschränken. Sie sind mittlerweile allzu weit auseinander gedriftet. Aber die Profilbildung soll erhalten bleiben.

Die Fremdsprachen im finnischen Schulsystem

Finnische Stundentafeln sind extrem sprachenlastig. Die erste Fremdsprache beginnt spätestens in Klasse 3, die zweite in Klasse 5, die dritte in Klasse 7. Die jeweils andere Landessprache und Englisch sind Pflicht für alle, die ein Abschlußzeugnis der peruskoulu erwerben wollen. Weitere Fremdsprachen sind wahlfrei, man kann aber in Finnland nichts Interessantes werden, wenn man sich mit den beiden Pflichtsprachen begnügt. Die Sprachenfolge ist frei. Zwar muß die erste Fremdsprache erst im 3. Schuljahr zwingend angeboten werden, ein Beginn in Klasse 1 ist aber gesellschaftlich erwünscht und kommt auch immer häufiger vor. Es gibt sogar Schulen, die einen "englischen Zug" führen. Der setzt voraus, daß die Kinder schon im Kindergarten Englisch lernten. Ob ab Klasse 3 die jeweils andere Landessprache angeboten wird oder Englisch, oder ob eine der schweren Sprachen: Deutsch, Französisch oder Russisch, das entscheidet jede Schule selbst, natürlich unter Berücksichtigung der Nachfrage, und mehrzügige Schulen stellen in den Parallelklassen verschiedene Wege zur Wahl. Seit einigen Jahren fördert der Staat die drei letztgenannten Sprachen mit Nachdruck, weil sie vorher so wenig gewählt wurden, daß der gesellschaftliche Bedarf nicht gedeckt werden konnte. Weitere Fremdsprachenangebote gibt es je nach Interesse der Schüler und Ressourcen der Schule. Spanisch und Italienisch kommen öfter vor. Exotisches wie etwa Japanisch ist die Ausnahme.

Wie man sich vorstellen kann, wird kein Elternpaar einem sprachlich nicht sonderlich begabten Kind ab Klasse 3 eine so schwere Sprache wie z.B. Deutsch zumuten, wenn doch auch Leichteres zu haben ist. Im übrigen gibt es natürlich auch Schulen mit z.B. mathematisch-naturwissenschaftlichem oder musischem Profil, ja sogar mit Sportprofil. Die Verteilung der Schüler auf die derart unterschiedlichen Schulen regelt sich durch die freie Schulwahl, und die folgt natürlich dem Profil.

Dies genügt wohl, um deutlich zu machen: Das System fungiert nach dem Motto "Laßt 1000 Blumen blühen". Rein als solches taugt es wohl kaum als Erklärung des finnischen PISA-Erfolges. Und in einem Land wie Deutschland, ohne Zentralabitur, aber mit 80 statt 5 Millionen Einwohnern, liefe es wahrscheinlich auch schnell aus dem Ruder. Im übrigen würde jeder Versuch, es zu kopieren, allein schon am deutschen Beamtenrecht und der GEW scheitern. Das System funktioniert nur unter der Voraussetzung, daß Lehrkräfte nach Bedarf eingestellt und entlassen werden können.

Geben finnische Lehrkräfte besseren Unterricht?

Die zweite Erklärung, die in der deutschen Presse breiten Raum eingenommen hat, lautet: Finnische Lehrkräfte geben eben besseren Unterricht.

Dem ist nicht so. Es gibt in Finnland wie überall sowohl sehr gute als auch weniger gute Lehrkräfte. Aber daß die finnischen Lehrkräfte im Durchschnitt professioneller arbeiteten als ihre deutschen Kollegen, ist barer Unsinn. Die Kunde von den Reinkarnationen Pestalozzis, die nördlich der Ostsee im Fleische wandeln und wirken, wo immer das Wort KOULO über einem Portal prangt, hat sich vermutlich dadurch verbreitet, daß das Zentralamt, wenn ausländische Besucher finnische Schulen von innen sehen wollen, solche Gäste selbstverständlich nicht in irgendeine beliebige Schule schickt, sondern dorthin, wo sie das zu sehen kriegen, was sie erwarten: Modernste, höchst eindrucksvolle Schularchitektur und -ausstattung sowie ausgewählte, von exzellenten Lehrkräften geführte Klassen. Aber was sich da eigentlich abspielt, kriegen die ausländischen Hospitanten natürlich nur zu einem Teil mit: Finnisch können sie alle nicht.

Ich selbst besorge mir meine Hospitationen nicht über irgendeine offizielle Instanz, sondern über private Kanäle, und so sehe ich dann auch nicht die pädagogischen Zugspitzen, sondern den ganz gewöhnlichen Schulalltag. Und der ist auch in Finnland nicht von Glanz und Spannung erfüllt. Die Methodik ist schon anders als hierzulande, darum aber nicht unbedingt besser.

Was hierzulande verbessert werden muß, sind nicht in erster Linie die Unterrichtsmethoden, sondern die institutionellen Bedingungen in den Schulen, und zwar aller Typen. Solange die so bleiben, wie sie sind, wird keine Lehrerfortbildung dazu führen, daß die deutschen Schüler international konkurrenzfähig werden.

Erklärungen für die guten Ergebnisse der finnischen PISA-Probanden

Warum können finnische Jugendliche so viel besser lesen als deutsche, wenn doch finnische Lehrkräfte nicht besseren Unterricht geben als die hiesigen? (Ich beschränke mich hier auf den Aspekt "Lesen", aber dass viele der folgenden Punkte auch für andere Fächer gelten, liegt auf der Hand.)
- Dank bestimmter soziokultureller Bedingungen, die es anderswo so nicht gibt, und
- Dank bestimmter innerschulischer Faktoren.

1. Soziokulturelle Bedingungen

1.1 Finnland hat lange, kalte und dunkle Winter und darum von alters her eine Lesetradition, für die südlich der Ostsee keine Entsprechung existiert. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Analphabetenrate Finnlands die niedrigste der Welt, 3,8 %. Es wird einfach sehr viel mehr gelesen als in Deutschland. Der hohe gesellschaftliche Stellenwert des Lesens färbt auf die Wahrnehmung von Kindern ab und trägt zu ihrer Motivation bei.

1.2 Finnisch liest sich unvergleichlich viel leichter als Deutsch, denn die Orthographie ist vollkommen phonetisch. Daß da s - i - e - b steht, man aber "siip" lesen muß, kommt nicht vor. Jedem Laut entspricht ein und nur ein Buchstabe. Niemals kann ein und derselbe Buchstabe einmal diesen, einmal jenen Laut bezeichnen wie im Deutschen (Vase - Vater). Einen 15jährigen Schüler, der viel liest, stört die deutsche Orthographie natürlich nicht mehr, sehr wohl aber dürfte sie bei der Leseleistung jener Probanden eine Rolle spielen, die die PISA-Studie als "Risikogruppe" bezeichnet. (Das sind diejenigen, die die unterste Lesekompetenzstufe des Tests nicht überschreiten oder gar nicht erst erreichen.)

1.3 Ausländische Fernsehbeiträge und Kinofilme werden nicht synchronisiert, sondern untertitelt. Gerade diejenigen, die am wenigsten Bücher lesen, aber am meisten vor dem Fernseher sitzen, absolvieren also ein tägliches Training schnellen, sinnerfassenden Lesens. Da sie das freiwillig tun - sie wollen ja fernsehen! - ist der Effekt erheblich.

1.4 Die Ausländerquote liegt in Finnland bei knapp 2 %; im Binnenland gibt es in den Schulen praktisch keine Kinder ausländischer Muttersprache. Außerdem wird jedem Kind, das aus dem Ausland kommt, von Staats wegen eine Landessprache beigebracht, ehe es in eine normale Klasse gesetzt wird. Schüler, die dem Unterricht aus sprachlichen Gründen nicht folgen können, gibt es also nirgends.

1.5 Die Bevölkerung Finnlands ist, von der Ballungsregion an der Südküste abgesehen, noch immer in hohem Maße homogen. Die Differenz zwischen den höchsten und den niedrigsten Einkommen "nach Steuern" ist die geringste aller entwickelten Länder ("vor Steuern" liegen auf Platz 1 die Schweden), Reichtum der Größenordnung, für die in Mitteleuropa jahrhundertealte Namen wie etwa Thurn und Taxis stehen, existiert im 1917 erst selbständig gewordenen Finnland überhaupt nicht. Jede normale Schulklasse im finnischen Binnenland setzt sich aus Kindern zusammen, deren soziales und mentales Erbe ein weitgehend gemeinsames ist. Selbstverständlich gibt es auch in einer mittelfinnischen Kleinstadt Ärzte und Apotheker, Lehrer und Juristen einerseits - und andererseits Busfahrer, Hausmeister und Briefträger. Aber ein Proletariat gibt es nicht, nicht einmal ländliches. Jede Lehrkraft kann sich darauf verlassen, daß das Werte- und Normengefüge, das von frühester Kindheit an in den Köpfen der Schüler verankert ist, im Prinzip intakt ist, auch wenn - selbstverständlich! - Kinder in Finnland wie überall auf der Welt nicht von morgens bis abends ein-fach "artig" sind. Keine binnenfinnische Lehrkraft hat es mit dem grellbunten Flickenteppich der Mentalitäten zu tun, auf dem ihre deutschen Kollegen sich bewegen müssen, und das eben nicht nur in Großstädten, sondern - zumindest in Westdeutschland - praktisch überall. Was das für das Arbeitsklima und damit für die Effektivität von Lernprozessen bedeutet, macht im wahrsten Sinne des Wortes "unermesslich" viel aus. Finnische Lehrkräfte, die aus der Ballungsregion ins Binnenland umziehen und dort unterrichten, wissen davon ein Lied zu singen, und der Refrain lautet: "Hier ist gut sein! Hier kann man noch richtig Schule halten!".
Daß nicht mehr als 1,5 Millionen Einwohner Finnlands unter "mitteleuropäischen Bedingungen" leben und alle übrigen unter traditionell finnischen, dürfte ein wesentlicher Erklärungsfaktor für die PISA-Ergebnisse sein. Die hohe Plausibilität dieser These wird auch im Zentralamt für Unterrichtswesen gesehen, im Gespräch mit ausländischen Besuchern jedoch meist nicht hervorgehoben, weil man ihnen dann zu viel Erklärungen zu Finnlands Geographie, Demographie, Kultur und Sozialgeschichte zumuten müßte. So bleibt der Zusammenhang den deutschen Rechercheuren meist verborgen.

2. Innerschulische Faktoren

2.1 Die durchschnittliche Klassenfrequenz beträgt in Finnland 19,5 - in Deutschland 24,1.

2.2 Es gibt keinen nennenswerten Unterrichtsausfall. Jeder Schulträger hat eine "Vertretungsreserve": Voll ausgebildete Lehrkräfte, die sofort einspringen, wenn eine Lehrkraft erkrankt. Dies schlägt besonders in Bezug auf die schwächeren Schüler zu Buche, denn sie sind es ja, die durch Unterrichtsausfall besonders benachteiligt werden.

2.3 Lehrkräfte können ihre ganze Kraft in den Unterricht investieren, denn anders als hierzulande ist es ja nicht ihre Aufgabe, sich nebenher ganz anderen Dingen zu widmen. Psychologin und Kuratorin sind selbst in kleinen Schulen niemals "Gäste von außerhalb", sie gehören auch dann zum Kollegium, wenn sie nicht täglich in gerade dieser Schule sind, sondern an verschiedenen Wochentagen an verschiedenen (kleinen!) Schulen. Diese beiden Fachkräfte für außerunterrichtliche Probleme in der Schule entlasten die Lehrkräfte ganz enorm und tragen so dazu bei, daß in den Stunden effektiv gearbeitet werden kann.

2.4 Wenn die Schule große Klassen hat - d. h. solche mit mehr als 18 - 20 Schülern - stellt sie Assistentinnen auf Stundenbasis ein. Diese haben keine einschlägige Ausbildung (es sind z.B. Mütter oder Abiturientinnen, die auf einen Studienplatz warten) und dürfen nicht selbständig arbeiten. Sie gehen aber mit einer Lehrkraft in die Klasse und betreuen dort nach ihrer Anweisung Schüler, die dem Unterricht nicht folgen können oder wollen. Sie können sich z.B. neben einen Störer setzen und mit ihm arbeiten oder mit einer kleinen Gruppe in einen anderen Raum gehen. Auf keinen Fall soll die Lehrkraft von ihrer Aufgabe, der ganzen Klasse etwas beizubringen, dadurch abgelenkt werden, daß einzelne Schüler ihre Aufmerksamkeit voll für sich in Anspruch nehmen.

2.5 Der entscheidende Faktor ist das Fördersystem. Innerhalb der Regelschule erfaßt es pro Jahr 16 % - 17 % aller Schüler, und das Zentralamt für Unterrichtswesen beklagt, daß die finanziellen Ressourcen diesen Prozentsatz begrenzen. Er deckt den Bedarf nicht. Wenn schwache Schüler sofort erfaßt und einzeln zielgenau unterrichtet werden, brauchen sie auch im schlimmsten Fall - d.h. wenn sie solche Hilfe im Lauf des Schuljahres mehrfach und in verschiedenen Fächern benötigen - nicht ein ganzes Jahr länger in der Schule herumzuhängen.
Übrigens ist Sitzenbleiben nicht nur für das betroffene Kind in vielen Fällen dysfunktional. Es ist auch für die Gesellschaft unökonomisch.

Konsequenzen

Wenn man bedenkt, daß in Deutschland nur rund 4 % der Schüler die Sonderschule L besuchen und den restlichen schwachen Schülern - nach finnischen Maßstäben also mindestens 12 %! - keinerlei besondere didaktische Fürsorge zu Teil wird, braucht man sich über die Größe der von PISA ausgemachten Risikogruppe nicht zu wundern. Keine finnische Klassenlehrerin begreift, daß von ihrer deutschen Kollegin erwartet wird, dem Problem schlicht durch "binnendifferenzierten Unterricht" beizukommen. Daß das im Rahmen des Klassenverbandes, noch dazu ohne Spezialkompetenz in Diagnostik und Methodik (!), nicht geht, versteht sich in Finnland von selbst.

Prinzipiell könnte man das finnische Förderverfahren, mindestens aber Stellen für Speziallehrkräfte, in Deutschland einführen, ohne das gesamte Schulsystem umzubauen. An einzelnen Versuchsschulen wäre es sogar relativ schnell zu machen, und der Erfolg ließe sich auch binnen weniger Jahre schon messen. Was fehlt, ist der politische Wille zu solchen Maßnahmen. Den Lehrkräften den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist bequemer und billiger.

Aber es bringt nichts. Wenn Deutschland in Sachen Bildung international aufholen will, muß es
- allen Immigrantenkindern Deutsch beibringen und
- allen schwachen Schülern systematisch helfen.

Daß das nicht aus dem Stand heraus flächendeckend möglich ist, versteht sich. Aber an welcher Stelle eine neue Schulpersonalpolitik ansetzen müßte, sieht jeder Pädagoge: in der Grundschule. Dort werden die Fundamente für den künftigen Bildungsgang eines jeden Kindes gelegt. Es ist die personelle Besetzung der Schule, von der alles andere abhängt. Nur Lehrkräfte, die sich auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren dürfen, den Unterricht also, können diese Aufgabe auf die Dauer mit professioneller Effizienz erfüllen. Wer Sozialarbeiterin, Psychologin, Klassenlehrerin und Speziallehrerin in einer Person sein soll, kann keines davon so sein, daß das Resultat die Bedürfnisse der Schüler und der Gesellschaft befriedigt. Das burn-out syndrom bedroht jede Lehrkraft, die einen solchen Spagat versucht.

Wer dafür eintritt, in Deutschland flächendeckend Gesamtschulen einzuführen, den frage ich: Treten Sie dann auch dafür ein, daß
1. die zulässige Schulgröße deutlich unter 1000 festgelegt wird?
2. Schulen weitgehende Autonomie erhalten und zu Profilbildung verpflichtet werden?
3. die bis dato gesetzlich festgeschriebene Sprachenfolge freigegeben wird?
4. Eltern unabhängig von ihrer Adresse entscheiden dürfen, auf welche Schule sie ihr Kind schicken?

Schluß

Nicht die formale Gestalt der "Gesamtschule" ist es, die Deutschland sich bei den Finnen abschauen sollte, sondern die intrasystemische Differenzierung, die begabungsgerechte Wege ermöglicht, und die personalintensiven binnenschulischen Strukturen zur Förderung der Schwachen. Führt man letzteres ein, erübrigt sich hierzulande ein Umbau des gesamten Schulsystems (welcher ja im Interesse der Schwachen gefordert wird), denn dann ist es ziemlich gleich, wie eine Schulart heißt. Führt man die flächendeckende Gesamtschule ein, erspart ihr aber die Profilverpflichtung, dann gibt es keine intrasystemische Differenzierung, und die nächste bildungspolitische Katastrophe wird binnen weniger Jahre eintreten wie das Amen in der Kirche. Erhält man das dreigliedrige deutsche System, erspart sich aber die Einführung gezielter Strategien zur Förderung der "Risikogruppe", wird alle Lehrerfortbildung umsonst sein; das Weiterbestehen von Realschule und Gymnasium trägt zum "Abschmelzen" der Risikogruppe nichts bei. Bei künftigen internationalen Vergleichsuntersuchungen wird Deutschland um nichts besser dastehen als bei PISA 2000.

Daß man von meinen finnischen Landsleuten lernen kann, bestreite ich nicht. Aber was man von ihnen lernen könnte und sollte, darüber bin ich bereit, mit den meisten deutschen Kommentatoren zu streiten. So mancher kocht da sein eigenes politisches Süppchen auf dem finnischen Feuer, und gar nicht wenige haben auf unzureichender Informationsbasis Schlüsse gezogen und Schnellschüsse abgegeben.

Allerdings ist es ein Gebot der Fairneß, zu guter Letzt auch zu sagen: Wenn man weder Finnisch noch Schwedisch kann und nolens volens auf offizielles Material und behördliche Kontaktvermittlung angewiesen ist, dann hat man schlechte Karten. Wenn ich mir vorstelle, ich müßte in Japan recherchieren ...! Das Land der Lachse, Mücken und Rentiere, wo sich im endlosen Wald nur hier und dort ein mökki versteckt und in dem mökki ein Mensch, ist reichlich plötzlich zum Bildungswunderland mutiert. Daß da von geschockten Mitteleuropäern mancher Unsinn publiziert wird, darüber würde ich als Finnländerin ja nur lachen, und das von Herzen belustigt. Daß ich nicht lache, sondern einen Artikel wie diesen schreibe, liegt nicht an meiner Humorlosigkeit. Es liegt daran, daß es bei alledem um etwas sehr, sehr Wichtiges geht: um Politik.


Literatur:
Eine gründliche Darstellung des finnischen Schulsystems mitsamt seinen demographischen, historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen enthält
Thelma von Freymann, Schule an der europäischen Peripherie - Bildungs- und Sprachenpolitik in Finnland, in: Zeitschrift für internationale Erziehungs- und sozial-
wissenschaftliche Forschung, 1998/1.

Zur Autorin:
Akad. ORin i. R.. Aus Finnland gebürtig, deutsches Staatsexamen I + II, Schuldienst, Verlagstätigkeit (Klett), 1975 - 1995 als Mitglied des Instituts für Angewandte Erziehungs-
wissenschaft und Allgemeine Didaktik an der Universität Hildesheim im Studiengang
"Lehramt an Grund- und Hauptschulen"


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