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Januar 2004

Was macht erfolgreichen Unterricht aus?

Von Prof. Dr. Rainer Dollase
Universität Bielefeld - Abteilung Psychologie

Das Wunderbare an einem freiheitlich demokratischen Rechtsstaat ist die Möglichkeit, seine Meinung frei zu äußern, die durch die Freiheit von Wissenschaft (Art.5, Abs.3 GG) auf das Vernünftigste ergänzt wird. Allerdings muss sie hin und wieder erkämpft, bestätigt und verteidigt werden, auch in einer mittlerweile gestandenen Demokratie wie der unsrigen. Neulich erlaubte sich eine Kollegin , das Messverfahren eines Kollegen öffentlich zu kritisieren. Dieser droht ihr nunmehr eine Klage an wegen Rufschädigung. Warum dieses? In einem von ihm geführten Institut, das nach privatwirtschaftlichen Prinzipien geführt wird, so wie es leider heutzutage vom Staat gewünscht wird, verdient er Geld im Rahmen von Evaluationen mit gerade diesem Messinstrument. Selbstverständlich ist eine öffentliche Kritik, daran muss sich der Kollege gewöhnen, vergleichbar mit Aussagen der Stiftung Warentest auf dem Warenmarkt und mit Sicherheit eine Beeinträchtigung des Geschäftes. Und das ist auch gut so.

Auch im Lande NRW hat man hin und wieder den Eindruck, dass die Verbindung der Bertelsmann Stiftung mit dem Schulministerium, dass Klippert-Kurse, dass das Qualitätsmanagement gegen kritische Bemerkungen inquisitorisch verteidigt werden und dass die Schulaufsicht hin und wieder renitenten Lehrkräften mit Konsequenzen droht, wenn sie sich nicht an den betreffenden Programmen beteiligen. Die Verquickung von Schul- und Bildungspolitik mit dem Kommerz hat eben auch seine Nachteile. Vorsorglich merke ich hier in aller Deutlichkeit an, dass die bisherigen Evaluationsberichte zu den Bertelsmann-Unternehmungen (z.B. „selbständige Schule“) methodisch äußerst fragwürdig sind, weil keine zufälligen Kontrollgruppen verwendet worden sind und dass die Klippert-Manie, abgesehen davon, dass sie kaum irgendetwas Neues produziert, ebenfalls noch einer sauberen Evaluation bedarf. So lange die nicht vorliegt, darf man auch in diesem Lande skeptisch sein und frank und frei behaupten, dass man in ihrer Wirksamkeit unbewiesene Maßnahmen für „Tinnef“ oder „Kokolores“ hält.

Die Freiheit von Wissenschaft und Forschung auszunutzen, sowie einen ungeschminkten Blick auf den Alltag des Unterrichtes zu werfen, sowie gleichzeitig die internationale Unterrichtsforschung zu berücksichtigen, soll ebenso Prinzip dieser Abhandlung sein wie der Verzicht darauf, die Lehrer und Lehrerinnen nunmehr als Prügelknaben für alle möglichen Fehlleistungen unserer Jugend zu machen. Ich stamme aus einer uralten Lehrerfamilie (schon mein Urgroßvater war Lehrer) und bin in meinem Verwandten- und Bekanntenkreis von Lehrkräften umzingelt, bilde selber seit 1970 Lehrkräfte aus und steige als Wissenschaftler gerne in die Praxis ein (zuletzt vom 2. bis 9. Oktober 2003 in den Kindergarten Wülferlieth in Bad Salzuflen).

Eines ist mir dabei in allererster Linie aufgefallen: Lehrer heute werden in einen unsinnigen Konferenzzirkus eingebunden, der ihnen die Zeit für die gründliche Vorbereitung von Unterricht, das Erstellen von Förderplänen, die Beratung von Eltern und Schülern erschwert. Die kostbare Lehrerarbeitszeit wird für ein Zuviel an Brimborium, an Konferenzen verplempert. Am Beispiel einer Schwägerin, Realschullehrerin in NRW mit einer vollen Stelle kann man nachweisen, dass sie im Monat November 2003 zwei Projekttage, zwei Elternsprechtage, drei Fachkonferenzen, zwei weitere Projekttage, zweimal Methodentraining, einen Tag der offenen Tür, Lehrerkonferenzen, Erprobungsstufenkonferenzen etc. auflisten kann, die sie schlicht und einfach an der Erfüllung ihrer wirklich notwendigen Aufgaben hindert. Die richtigen Prioritäten im Lehrerberuf sind: 1. Unterricht halten, 2. Unterricht vorbereiten, 3. Diagnostik, 4. Beratung von Schülern und Eltern, Platz 5 bis 10 nichts, und Platz 10 der bürokratische, moderne und sonstige Rest. Diese schlichte Weisheit scheint völlig in Vergessenheit geraten zu sein. An sie zu erinnern, ist darum Pflicht, weil deutsche Lehrer mit einer jährlichen Unterrichtszeit zwischen 865 und 1.072 Stunden deutlich vor den nächst platzierten finnischen Pädagogen, (679 bis 891) Stunden, rangieren (so eine Pressemeldung der Neuen Westfälischen). Schon bei TIMSS und auch bei PISA ist bekannt geworden, dass z.B. japanische Vollzeitlehrer nur 15 bis 16 Stunden Unterricht in der Woche geben, dass finnische Lehrer 21 bzw. maximal 23 Stunden Unterricht in der Woche abhalten und dass dies bei deutschen Lehrkräften deutlich höher liegt. Wer Unterrichtsqualität will, muss dafür sorgen, dass dieser Unterricht gründlich und in Ruhe vorbereitet werden kann. Bei den hohen Lehrverpflichtungen deutscher Lehrkräfte bleibt keine Zeit mehr für Konferenzzirkus, Marketinggags, Remmidemmi und Events.

Die folgenden Ausführungen richten sich nach der folgenden Gliederung:

1. Nachwort zu PISA ...
2. Guter Unterricht
    – im Spiegel der internationalen empirischen Unterrichtsforschung
3. Guter Unterricht – Lehrer und Mitschüler als Quellen der Verärgerung
4. Theorie: Die psychologische Reduzierung der Gruppengröße
5. Nachwort zur Steuerung von Qualität ...

1. Nachwort zu PISA ...

Die TIMSS- und PISA-Ergebnisse sind in der Presse und auch in der Bildungs- und Schulpolitik ja nun weidlich diskutiert worden. Einige Punkte, wie die überhöhte Lehrerarbeitszeit in der BRD, aber auch andere, wesentlichere Punkte sind so gut wie gar nicht erwähnt worden. Zunächst einmal gilt es festzuhalten, dass es solche internationalen Vergleichsstudien schon sehr lange gibt. Anfang der 70er Jahre etwa hat die International Association for the Evaluation of Educational Achievement insgesamt 258.000 Schüler in 9.700 Schulen und 20 Ländern nach Kenntnissen und praktischen Fähigkeiten in Erdkunde, Biologie, Chemie und Physik befragt. Die Ergebnisse waren niederschmetternd. Bei den 10-Jährigen in den 4. Grundschulklassen liegen sämtliche Leistungen in der BRD sehr wesentlich unter dem internationalen Durchschnitt, bei den 18-Jährigen im letzten Jahrgang steht die BRD am unteren Ende der Rangskala auf dem vorletzten Platz. Nur bei den 14-Jährigen im 8. Schuljahr, genau die Stichprobe, die auch später bei PISA untersucht worden ist, liegt die BRD bis auf Chemie über den internationalen Mittelwerten. Nicht nur Frankreich, England oder Schweden, auch Länder wie Ungarn, Finnland, Schottland, Australien oder Neuseeland übertreffen den Unterrichtserfolg hierzulande.

Die Studie wurde damals nur kurz erwähnt und achselzuckend zur Kenntnis genommen, weil man damals gerade eine Modewelle hatte, die da lautete: Empirische Bildungsforschung ist schlecht. Alle faselten von sog. qualitativen Methoden und bemühten sich, das angeblich „falsche Weltbild“ der empirischen Unterrichtsforschung zu analysieren. Eine schlechte Zeit damals für Leute, die das getan haben, was nunmehr unsere Bildungslandschaft erschüttert: Mit objektiven Methoden nachgucken, was denn an Erfolgen herausgekommen ist.

Verglichen mit den früheren internationalen Vergleichsstudien stellt PISA und erst recht IGLU also einen Fortschritt dar, d.h. wir könnten die aktuellen Ergebnisse auch so werten, dass wir eine kleine Idee besser geworden sind ...

Worüber nach PISA nur selten geredet wurde, ist die Unterrichtsqualität, d.h. die Methoden, mit denen die Siegerländer wie z.B. Japan, Korea oder Finnland ihre Superergebnisse erzielt haben. Wenn es denn daran liegen sollte, an der richtigen Methode des Unterrichtes also („one shot designs“ oder Querschnittsuntersuchungen wie PISA erlauben keinerlei kausale Schlussfolgerungen auf die Ursachen für das gute oder schlechte Abschneiden), dann hätte man schlicht und einfach festhalten müssen, dass der Frontalunterricht allen anderen Mätzchen im Unterricht überlegen ist. In Japan und Korea ist trotz gelegentlicher Problemstellungen im Unterricht, die die Kinder dann alleine bearbeiten müssen, der Frontalunterricht des Lehrers dominant. Für unsere Zwecke ist deswegen Finnland gerne das Modellland, an dem man sich orientiert. Und, obwohl es keinen kausalen Beleg dafür gibt, wird flugs das integrierte Schulsystem dafür verantwortlich deklariert (Übrigens: Warum hat man die PISA-Ergebnisse nicht für unsere Ganztags-Gesamtschulen veröffentlicht? Möglicherweise aus gutem Grunde ....).

Nach PISA gab es einen Expertentourismus nach Finnland, worüber leider Gottes keiner lachen konnte, denn „Experten“ wissen natürlich, wie guter Unterricht aussieht, weil es eine internationale empirische Unterrichtsforschung gibt, die relativ eindeutige Resultate hierzu liefert. Experten hätten nicht nach Finnland gemusst. Man hat also Pseudoexperten geschickt. Eher unterhaltsam war dann auch, was „Expertentouristen“ in Finnland im Unterricht feststellten. So berichtet etwa Heike Schmoll von der FAZ (21.2.02) und den sog. Experten sei es ins Stammbuch geschrieben - „Der Unterricht ist fast durchgehend ein Lehrer geleiteter Unterricht, nur in der Oberstufe wird zuweilen Gruppenarbeit eingesetzt. Methodisch sind finnische Lehrer ihren deutschen Kollegen sicher nicht überlegen.“ Oder die Kollegin Thelma von Freymann, selber Finnin, amüsiert sich darüber, dass deutsche Rechercheure die Differenz zwischen den finnischen und den deutschen Ergebnissen oft und mit spürbar aggressiver Genugtuung „darauf zurück[führen], dass finnische Lehrkräfte besseren Unterricht gäben – moderneren, phantasievolleren, „kreativeren“ – als die deutschen .... In Wahrheit ist finnischer Unterricht in der Regel ‚solides Handwerk’ in ganz traditionellem lehrerzentriertem Stil, nicht mehr und nicht weniger“. Und an anderer Stelle bringt sie auch ein Beispiel dafür, wie finnische Lehrer unterrichten, und zwar in einer Art und Weise, die in Deutschland jeden Referendar hätte durchfallen lassen. „Die Lehrerin hält zu Beginn der Stunde ein Marmeladenglas hoch, so dass es alle sehen können. Es ist zu etwa einem Viertel mit Wasser gefüllt. ‚Wer erkennt dieses Glas wieder?’ Schüler: ‚Das ist das Glas, in das Matti gestern Schnee gefüllt hat’. Lehrerin: ‚Richtig. Und erinnert ihr euch – das Glas war ganz voller Schnee. Nun ist er geschmolzen, und es ist viel weniger Wasser im Glas als gestern Schnee war.’ Ich traue meinen Ohren nicht. Warum sagt sie das selber, statt Kinder aufzurufen und solche Antworten formulieren zu lassen?“ (Thelma von Freymann in u.a. „Neue Sammlung“). Als Psychologe und Ausbilder von Lehrern und in Kenntnis der internationalen Forschung verwundert mich das Verhalten der finnischen Lehrkräfte überhaupt nicht. Schließlich ist es völlig unstrittig, dass man auch in einem lehrerzentrierten Unterricht gute Erfolge erreichen kann – man muss ihn nur richtig machen. Nun höre ich Schlauberger laut denken: „Wenn es nicht der Unterricht ist, dann muss es ja die Struktur des Schulwesens sein“ – nein, organisatorische Faktoren, siehe unten, haben nur einen geringen Effekt auf die Lernleistung. Lehrerzentrierten Unterricht kann man sehr unterschiedlich gut oder schlecht machen – Rainer Domisch (in Finnland arbeitender deutscher Lehrer/Schulexperte und Fachdidaktiker Deutsch) hält z.B. das Verhältnis der Schüler zu ihren Lehrern für wesentlich besser als in Deutschland (mdl. Mitteilung). Oder: Ob die Lehrerin die Lösung „vorsagt“ oder die Schüler raten lässt, ist vielleicht komplett unwichtig (vgl. Grell/Grell „Unterrichtsrezepte“ zu den Tücken des Erarbeitungsunterrichts).

Auch ein anderer Punkt aus dem finnischen Schulsystem wird ungern thematisiert. Noten werden in Finnland nahezu ausschließlich durch schriftliche Leistungen erworben, d.h. durch die ganz traditionellen Klassenarbeiten usw. Seit vielen Jahren verweise ich darauf, dass die Beurteilungen der mündlichen Mitarbeit nicht nur stille Schüler benachteiligt, sondern vor allen Dingen zu einer interessanten Schwätzerkultur führt, zu der mir Studenten sagen: „In Mathe hätte ich natürlich mein Abitur nie geschafft, wenn es nicht die Bewertung der mündlichen Mitarbeit gegeben hätte.“ Auf meine Nachfrage, wieso das denn möglich sei, antwortet derselbe Student: „Ich habe dann immer eine Frage gestellt: Wie sind Sie von der Zeile 7 auf die Zeile 8 gekommen und der Lehrer hat gedacht, ich wäre an Mathe interessiert und hat deswegen meine Fünfen im Schriftlichen mit Dreien ausgeglichen“. Diskussionsbeteiligung im Unterricht ist sicherlich sehr schön und entlastend, aber einen individuellen Anreiz, sich selber richtig anzustrengen, erreicht man natürlich nur dann, wenn die mündlichen oder schriftlichen Leistungen auch individuell, etwa im mündlichen Fall als mündliche Einzelprüfung, erfasst werden oder aber schriftlich. Der einzelne mündliche Beitrag in der Diskussion sagt nur in seltenen Fällen (z.B. alle rätseln über die Lösung eines Matheproblems 5 Minuten lang – einer sagt es dann) etwas über die individuelle Leistungsfähigkeit aus. Typisch ist aber: nachdem 5 ihre Ideen losgeworden sind, können nicht die anderen zwanzig auch noch gehört werden, obwohl sie vielleicht neue Ideen oder alte Ideen in besserer Formulierung hätten präsentieren können.

Eine Paradoxie: Es bleibt trotz PISA bestehen, dass die Kinder hierzulande (d.h. in den 80er Jahren) im Durchschnitt um 20 IQ-Punkte intelligenter waren als Kinder in den 50er Jahren. Bei der Neueichung von Intelligenztesten fand man bei repräsentativen Stichprobenvergleichen zwischen damals und heute in allen Industrienationen einen massiven IQ-Gewinn. Dieser Effekt wird Flynn-Effekt genannt und er lässt sich, wenn man etwa die Klassenarbeiten von damals und heute vergleicht, auch im Detail nachweisen. Heute werden im 4. Schuljahr auch Matheaufgaben, die eine Kombination von Punkt- und Strichrechnung sind, gestellt ebenso Gleichungen mit einer Unbekannten, ebenso Dreisatzaufgaben – alles Aufgaben, die meine Generation erst auf den weiterführenden Schulen kennen lernte. Die anderen Länder haben eben auch nicht geschlafen – die schulischen Anforderungen sind überall gestiegen.

2. Guter Unterricht – im Spiegel der internationalen empirischen Unterrichtsforschung

Die Erziehungswissenschaft insgesamt, darunter sicher auch große Teile der sog. Anteilsdisziplinen, wie Psychologie, Soziologie, Philosophie, Rechtswissenschaft, haben in der Praxis sicher auch darum ihren Kredit verspielt, weil sie so wenig praktisch verwertbare Erkenntnisse absondern. In Deutschland gibt es eine merkwürdige Philosophie, die da lautet: „Wissenschaft ist zwar notwendig, aber bitte fragt uns nicht danach, welche Veränderungen wir im Alltag vorschlagen, damit der Unterricht besser klappt“.

Erfreulicherweise gibt es national und international Ausnahmen, z.B. Andreas Helmke und der vor wenigen Jahren verstorbene Franz Emanuel Weinert, die beide im bayerischen Raum große Projekte zur Analyse des guten Unterrichtes durchgeführt haben. So fasst etwa Andreas Helmke entsprechende Untersuchungen wie folgt zusammen: Qualitätskennzeichen sind Klarheit, effektive Zeitnutzung, effiziente Klassenführung, individuelle, fachliche Unterstützung (id est: aktive Kontrolle und Unterstützung des Arbeitsfortschritts in Übung und Stillarbeit) oder im Jahre 1992: fachliches Wissen der Schüler, Aufmerksamkeit im Unterricht, der Klassenkontext, hohe Leistungserwartung, intensive individuelle Hilfen, klarer Unterricht, ausgeprägte Lehrstofforientierung, Toleranz von Langsamkeit und effizientes Management (S. 28). Übersehen wird häufig, dass es nur einen „geringen“ Erklärungswert schulorganisatorischer und –ökologischer Faktoren“ (S. 26) gibt. Denn genau dieses ist die Philosophie in diesem unseren Lande: Strukturen und Organisation ist alles, dass es sich beim Unterrichthalten um ein schlichtes Handwerk handelt, das man auch handwerklich lernen muss, wird dabei gerne vergessen.

Hierzu eine weitere Quelle, in der über 12.000 Vergleiche zwischen gutem und schlechtem Unterricht „meta-analysiert“ worden sind, d.h. eine Vielzahl von Studien wird mit Hilfe spezieller statistischer Techniken zusammengefasst, obwohl jede einzelne Studie eine spezifische Untersuchungsmethode hatte (von Wang, Haertel, Walberg, 1993). Es ergibt sich eine Rangreihe von Einflussfaktoren auf den guten Unterricht und bei dieser Rangreihe steht an allererster Stelle „classroom management“, das auch in den Studien von Helmke & Weinert immer wieder erwähnt wird. Auf dem zweiten und dritten Platz folgen Eigenschaften der Schüler und die elterliche Unterstützung, aber auch die Interaktion zwischen Lehrern und Schülern, die Peer Group, das Klassenklima usw.. Auf den letzten Plätzen auf jeden Fall liegen solche Faktoren wie „student demographics“, „student use of out of school time“, „program demographics“, „state and district policies“, „school policy and organization“, „district demographics“ etc.. – also das gesamte Arsenal küchensoziologisch argumentierender deutscher Bildungsreformer.

Also auch hier, in der berühmten Studie von Wang, Haertel & Walberg, eine absolut eindeutige Bestätigung dafür, dass organisatorische Faktoren einen geringen Erklärungswert für die Qualität des Unterrichtes haben. Man sollte also, wenn man wirklich etwas tun möchte zur Steigerung der Qualität von Unterricht, auf dieses oft genannte „classroom management“ eingehen. Auch aktuelle Studien bestätigen diese universale Erkenntnis: Helmke und Jäger haben im Jahre 2001ff eine Totalerhebung der Schulen in Rheinland-Pfalz durchgeführt und bei der Ermittlung eines Profils für die leistungsstärksten Klassen und Kurse wiederum hervorgehoben, dass insbesondere die effiziente Klassenführung an erster Stelle ein Qualitätskennzeichen des erfolgreichen Unterrichts ist.

Was bedeutet eigentlich „classroom management“? Bedauerlicherweise gab es nur eine kurze Zeitspanne in der Bundesrepublik, in der ein Buch von Jacob Kounin „Techniken der Klassenführung“, Klett Verlag, erhältlich war. Der Band erschien original 1970 in den USA und 1976 auf deutsch und war dann Anfang der 80er Jahre bereits wieder ausverkauft. Wer in der Zeit, in der man alles andere für wichtiger hielt als „Techniken der Klassenführung“, dieses Buch in seiner Ausbildung kennen gelernt hat, weiß worum es hier geht: Es geht darum, dass die Schüler im Unterricht vollbeschäftigt sind, mitmachen und wenig Fehlverhalten zeigen und zwar wird dies erreicht durch eine Reihe von ungewöhnlichen Techniken, die der Lehrer auf sehr verschiedene Art und Weise realisieren kann. Eine wesentliche Dimension ist etwa die „withitness“, das „Dabeisein“ oder (im Deutschen falsch konnotiert) „Allgegenwärtigkeit“, d.h. der Lehrer macht bei Disziplinierungsfällen keine Objekt- und Zeitfehler, d.h. er bemerkt abweichendes Verhalten sofort und signalisiert, dass er es gemerkt hat bzw. er trifft immer auch den Urheber oder tadelt schwereres Fehlverhalten bei gleichzeitigem Vorliegen von leichteren Verfehlungen statt umgekehrt. Er signalisiert also, dass er über die Vorgänge im Klassenraum Bescheid weiß. Die Schüler glauben und wissen, dass er alles mitbekommt. Die 2. Dimension lautet „Überlappung“, d.h. die Lehrkraft ist zur parallelen Steuerung von mehreren Vorgängen im Klassenzimmer fähig (in der Computersprache würde man heute sagen „multitasking“). Die 3. Dimension lautet „Reibungslosigkeit“, d.h. es gibt keine Brüche, keine Verkürzungen, keine thematischen Inkonsequenzen, keine Unentschlossenheit, was zu tun ist, sondern die gesamte Unterrichtsstunde ist wie aus einem Guss, Eines baut auf das Andere auf, eine Eigenschaft, die man als Lehrer/Lehrerin natürlich durch gute Vorbereitung erreicht (s.oben, dort wurde darauf ja schon hingewiesen). Die 4. Dimension heißt „Schwung“, womit das Fehlen von Verzögerungen, wie etwa Überproblematisierungen von Verhaltensweisen der Schüler, von Arbeitsmaterialien etc. gemeint ist. Die 5. Dimension heißt „Aufrechterhaltung des Gruppenfokus“, worunter eine Gruppenmobilisierung (d.h. alle fühlen sich angesprochen), ein hoher Beschäftigungsradius (möglichst viele Schüler in einer Unterrichtsstunde sind „on task“) und das Rechenschaftsprinzip (alles was ich mache, wird von jemand anderem kontrolliert, z.B. vom Partner oder auch vom Lehrer) verstanden wird. Die anderen Dimensionen wie „programmierte Überdrussvermeidung“ sowie „Valenz und Herausforderung“ ergänzen die Management-Dimensionen um eher inhaltliche, didaktische Qualitäten wie interessante Arbeitsblätter bzw. Gruppenaufgaben, stimulierendes und enthusiastisches Lehrerverhalten etc.. Die genannten Dimensionen haben einen im Vergleich zu allen anderen Studien gigantischen Effekt auf den Unterrichtserfolg: Korrelationen von bis zu .64 sind, obwohl eine Videostudie, keine Seltenheit. Man kann, ich habe das in schulpraktischen Studien mit meinen Kandidaten erprobt, den Pegel der Mitarbeit von einer Unterrichtsstunde zur anderen deutlich erhöhen und das Fehlverhalten deutlich senken. Man könnte, wenn man diese Dimensionen beherrscht, damit im Zirkus auftreten ...

Auf jeden Fall: In einem Unterricht, der sich an den Kounin-Dimensionen orientiert, ist es ruhig und die meisten Schüler und Schülerinnen arbeiten mit. Kounin hat diese Studie an Grundschulklassen sowohl im Frontalunterricht wie auch im Gruppenunterricht, sowohl bei normalen Schülern wie auch bei emotional gestörten Kindern erprobt und in allen Situationen hat sich der gleiche positive Effekt gezeigt. Ein Versuch, diese Publikation in Deutschland erneut auf den Markt zu bringen, scheiterte in den 90er Jahren an Lektoratseinschätzungen, die keinerlei Interesse daran hatten, diese Thematik noch mal dem Markt auszusetzen. Auf deutsch: Man glaubt nicht, dass sich eine solche Publikation genügend häufig verkauft.

Wir halten also fest: Die internationale Unterrichtsforschung beantwortet die Frage, was macht erfolgreichen Unterricht aus, recht eindeutig sowohl nach Metaanalysen wie nach Videostudien wie nach Lernzuwachsstudien recht eindeutig: In erster Linie ist ein classroom management notwendig, das darin besteht, dass alle mitarbeiten und dass es wenig Fehlverhalten gibt. Die Aussage ist nicht tautologisch, wenn man die Techniken sieht, die hierzu führen. Dabei ist das „Verstehen“ der Dimension wie Allgegenwärtigkeit, Überlappung, Reibungslosigkeit und Schwung, Aufrechterhaltung des Gruppenfokus nicht das Problem, sondern deren Realisierung im Unterricht. In dem Buch von Kounin sind Hunderte von Beispielen enthalten, weil man solche Dimensionen nicht ohne den Bezug zu vielen praktischen Beispielen erklären kann. Insgesamt erweist sich somit ein relativ straffer, disziplinierter Unterricht als günstig für die Erzielung von Unterrichtserfolg.

Der neueste Stand der Erforschung von Unterrichtserfolg geht allerdings noch eine Überlegung weiter. Auch hier wieder sind Helmke und Weinert Bahn brechend mit der Ermittlung von Befunden gewesen. Und zwar haben sie in dem Werk „Entwicklung im Grundschulalter“ die 6 erfolgreichsten Grundschulklassen einer größeren Stichprobe auf der Basis eines Leistungszuwachses in Mathematik von Anfang zu Endmessung zusammengestellt und das Profil der 6 Lehrer/Lehrerinnen aufgezeichnet. Verblüffendes Resultat: Keiner der 6 Lehrkräfte unterrichtet so wie ein anderer, jeder hat ein völlig eigenes und manchmal auch extrem unterschiedliches Profil in den zentralen Dimensionen der Unterrichtsführung. Da gibt es einen Lehrer, dessen Klassenführung ist hoch überdurchschnittlich, die Strukturiertheit ebenfalls, die aktiv-fachliche Unterstützung allerdings extrem unterdurchschnittlich, die Variabilität der Unterrichtsform normal, die Klarheit wieder weit überdurchschnittlich und besonders hoch die Motivierungsqualität. Man könnte sich hier einen Frontalunterricht mit gelegentlichen Partnerarbeiten oder Arbeitsblattaufgaben vorstellen. Dem gegenüber ein anderer, ebenfalls sehr erfolgreicher Lehrer: Klassenführung ist (wie bei allen 6 Erfolgreichen mindestens durchschnittlich) hier etwas überdurchschnittlich, unterdurchschnittlich ist der Unterricht strukturiert, unterdurchschnittlich die aktive, fachliche Unterstützung, aber die Variabilität der Unterrichtsform ist weit überdurchschnittlich und die Klarheit ebenfalls. Völlig negativ ausgeprägt ist die Motivierungsqualität, man könnte sich hier einen Lehrer vorstellen, der das genaue Gegenteil des Lehrers tut, der gerade geschildert worden ist. Es gibt also bis auf Klarheit und Klassenführung in allen Dimensionen große Unterschiede zwischen den gleichermaßen erfolgreichen Lehrkräften, gemessen am Leistungszuwachs in Mathematik. Dieses Resultat hat Helmke und viele andere dazu veranlasst, von der wechselseitigen Kompensierbarkeit der gewünschten Unterrichtsmerkmale auszugehen. Es gibt nicht den einen guten Unterricht, sondern es gibt mit Sicherheit sehr viele verschiedene Formen des guten Unterrichtes. Aber ehe dieses Resultat zur Begründung von Beliebigkeit verwendet wird, muss natürlich jetzt auf eine offene wissenschaftliche Frage hingewiesen werden: Wieso erreicht man mit so unterschiedlichen Methoden ein und dasselbe Ziel? Oder: Gibt es u.U. Gemeinsamkeiten all dieser unterschiedlichen Strategien? Dieser Frage wollen wir uns im übernächsten Gliederungspunkt zuwenden.

3. Guter Unterricht – Lehrer und Mitschüler als Quellen der Verärgerung

In der internationalen Unterrichtsforschung ist das Sozialklima, die Lehrer-Schüler-Interaktion, das Klassenklima u.ä. zwar nicht führend als Faktor für den Unterrichtserfolg, aber ebenfalls doch überdurchschnittlich stark als Erfolgsfaktor ausgeprägt. Dabei soll nicht vergessen werden, dass ein wesentlicher Faktor für den Unterrichtserfolg die kognitiven Voraussetzungen der Schüler als solche sind – das darf man auch bei der Bewertung der PISA-Ergebnisse niemals vergessen, dass u.U. deutsche Schüler im Durchschnitt weniger intelligent sind als die Schüler und Schülerinnen in anderen Staaten. Möglicherweise ist dies bedingt dadurch, dass es eine neue Akademikerkinderlosigkeit gibt, die offenbar in anderen Industriestaaten nicht so stark ausgeprägt ist und die, man glaubt es kaum, nicht unbedingt mit der Verfügbarkeit von Krippen- und Kindergartenplätzen zusammenhängt ...

Die „Klimakatastrophe“ wurde auch im Kontext der PISA-Ergebnisse thematisiert und zwar ging es insbesondere um die Zufriedenheit im Bezug auf „Unterstützung durch die Lehrkräfte“ in welcher die deutsche Schule auf dem viertletzten Platz liegt (Korea, eines der Siegerländer allerdings auf dem letzten). Auf der anderen Seite ist seit längerem bekannt, dass deutsche Schüler und Schülerinnen ihre Lehrer als menschlich nicht sonderlich angenehm beurteilen, z.B. geben 80% an, dass sie schon mal ungerecht beurteilt worden sind, was kein Wunder ist, weil man ja die Leistung in der mündlichen Mitarbeit, ein kaum objektiv zu beurteilender Bereich, so hoch bewertet, 55% meinen, dass Lehrer sie vor anderen bloß gestellt haben, 52% fühlen sich beleidigt, 51% sind schon mal angeschrieen worden, 43% beschimpft, 36% verspottet etc. Auch Schüler an der Basis finden, dass ein guter Lehrer Kinder bzw. Jugendliche gern haben muss und dass er neugierig auf die Sicht- und Denkweisen der Schüler sein sollte und dass ein guter Lehrer vor allen Dingen auch Außenseiter in die Klassengemeinschaft integrieren sollte, dass er eine neutrale Stellung in der Klassengemeinschaft haben sollte, sich aber mit angemessener Strenge, Gerechtigkeit und Durchsetzungsvermögen für Disziplin sorgen sollte, Bevorzugung von einzelnen Schülern schaden der Klassengemeinschaft etc. (Bericht aus einem Schülerrat einer Gesamtschule aus dem Sommer 2003).

In einer eigenen Untersuchung habe ich im übrigen festgestellt, dass die Schüler mit den Lehrern noch besser zufrieden sind als mit ihren Klassenkameraden, dass allerdings diese Zufriedenheit mit Einbruch der Pubertät sehr stark sinkt. Insgesamt wurden 7.800 Schüler der Sekundarstufe I an allen Schulformen untersucht. Eltern und Freunde hingegen gelten bei heutigen Schülern und Schülerinnen als Bollwerke im Stress, was sich darin äußert, dass sie hervorragende Noten bezüglich der Zufriedenheit erhalten. Es gibt hier auch nur wenige Ausnahmen, die ihre Eltern oder Geschwister, ihre Familie schlechter beurteilen. Meist ist die Beurteilung der Schulklasse, der Klassenkameraden und der Lehrkräfte deutlich schlechter.

Eine gewisse Skepsis gegenüber der Gruppe und den anderen konnte ich auch in einer orts- und methodenidentischen Replikation an Grundschulen feststellen, und zwar zwischen 1974 und 1997. Auf Fragen wie „Gibt es viele Kinder, die du nicht leiden kannst?“, nahmen die Ja-Antworten von 1974 auf 1997 um 22% zu, mittlerweile sind es 56%, die diese Frage bejahen. Auch Die Frage „Macht es dir viel aus, wenn andere Kinder sich mit dir streiten?“, wurde im Jahre 74 von 29% der Kinder bejaht und heute von 52%. Die Ergebnisse werden hier kurz erwähnt, weil sie im Kontext einer in der Wissenschaft längst bekannten Kritik an der Gruppeneuphorie liegen. Dass Gruppen Leistungs- und Entscheidungsnachteile bringen, ist etwa in der Gruppenpsychologie durch viele Studien belegt worden. Gruppen können Motivation vernichten, können Leistungen behindern, verführen zum sozialen Faulenzen, verführen zur Ausnutzung der Arbeitskraft anderer und sind möglicherweise nicht das ideale Instrumentarium, um mehr Leistung in der Schule zu erreichen. Die früheren Studien über die Bildungswirkung des Gruppenunterrichtes und andere Studien müssen sorgfältiger als bisher betrachtet werden und auf methodische Mängel hin untersucht werden. Neuere und sauberere methodische Untersuchungen bringen jedenfalls stets einen Motivationsverlust hervor, sobald Menschen in Gruppen zusammen irgend etwas tun müssen.

Wir halten also fest: Sowohl im sozial-emotionalen Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern als auch im Verhältnis der Schüler untereinander hat sich in den letzten Jahrzehnten etwas verschlechtert. Die sozialen Beziehungen, Teil des Unterrichtserfolges, müssen weiterhin unter Beachtung stehen und es muss konsequent überlegt werden, wie Kindern und Jugendlichen in der Schule die Angst vor ihren Klassenkameraden, aber auch die Angst vor den Lehrkräften genommen werden kann.

Man kann Lehren und Unterrichten auch als Überzeugungsarbeit auffassen. Der Amerikaner Robert Cialdini hat 1997 in seinem Buch „Die Psychologie des Überzeugens“ eine Vielzahl von Studien zur persuasiven Kommunikation zusammen gestellt und u.a. die folgenden 5 Mechanismen der mitmenschlichen Überzeugung herausgestellt: 1. Mit anderen im Ausgleich leben wollen: Es ist mir unangenehm, auf Kosten anderer zu leben, wer mir was gibt, dem gebe ich zurück. 2. Verpflichtungen einhalten: Wer A sagt, muss auch B sagen, wenn ich etwas versprochen habe, halte ich mich daran. 3. Tun was sich bewährt hat: Alle tun es, alle haben es, es hat großen Erfolg, es gibt tolle Vorbilder, deswegen tue ich es auch. 4. Sympathischen Menschen folgen: War attraktiv, hat mich gelobt, war kooperationsbereit, deswegen tue ich es auch. 5. Kompetenten Ratgebern folgen: Besaß fachliche Autorität, wusste genau Bescheid, hat alles richtig vorher gesagt, deswegen tue ich es.

Unschwer erkennt man in dieser Aufzählung etwa das „Management by Objectives“ (Trick Nr. 2), das sich in lauter Bildungsvereinbarungen, Disziplinvereinbarungen mit Schülern, mit Kontrakten, Verträgen etc. im nordrhein-westfälischen Schulsystem materialisiert. Man sollte die anderen Techniken nicht vergessen, vor allen Dingen Nr.4, sympathische Lehrer haben einen etwas leichteren Stand, auch die Reversibilität, mit dem ersten Paradigma angedeutet, ebenso wie die fachliche Kompetenz von Lehrern (Technik 5) sind Qualitätsmerkmale eines erfolgreichen Lehrers im Unterricht. Unnötig zu sagen, dass Reversibilität die Realisierung der Tausch/Tausch-Dimensionen (Achtung, Wärme, Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen, Echtheit), Enthusiasmus und viele andere in der herkömmlichen Lehrerausbildung immer wieder betonte Verhaltenweisen, einen guten Unterricht ausmachen. Auch hier wird klar, dass man solche Verhaltensweisen nicht auf Konferenzen und in Diskussionen erlernt und auch nicht gebeugt über ein Buch erarbeitet, sondern dass es darauf ankommt, in der Praxis diese Vorschläge zu leben und umzusetzen, weshalb die Forderung nach einer Praxis näheren Aus- und Fortbildung natürlich vorrangig wäre.

4. Theorie: Die psychologische Reduzierung der Gruppengröße

Wenn wir die bisherigen Überlegungen zusammenfassen, so macht guten Unterricht ein geschicktes Classroom-Management aus, sowie ein soziales Klima, das niemanden bedroht. Schließlich muss man eine Handvoll Strategien beherrschen und vorleben, die zur Überzeugung von Menschen notwendig sind. Im Jahre 1995 habe ich im Anschluss an die TIMSS-Ergebnisse folgende zwei Krisen im deutschen Unterricht ausgemacht: die Herzlichkeitskrise und die Krise der Unterrichtskunst. Das bleibt auch im Jahre 2004 noch gültig.

Die internationale Unterrichtsforschung kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass die Art des Unterrichtkonzeptes nicht entscheidend ist: Man kann Offenen Unterricht machen, man kann Frontalunterricht machen, Gruppenarbeit, Partnerarbeit, Projekte, Individual Prescribed Ionstruction, man kann nett sein oder cool sein etc. In allen Konzepten kann man das classroom management, das positive soziale Klima und die Überzeugungstechniken realisieren. Scheinbar also ein Widerspruch. Es wäre nun wissenschaftlich äußerst bequem, wenn man achselzuckend zur Tagesordnung übergeht und diesen offenkundigen Widerspruch nicht lösen möchte. Die folgenden Überlegungen stellen einen Versuch zur Lösung dieses Widerspruches dar, den ich in verschiedenen Publikationen – leider bislang nur einzelne Artikel – entwickelt habe.

Um die Überlegungen verständlich zu machen, gehen wir zurück in die deutsche Pädagogik, z.B. zu Kerschensteiner (1921), der sinngemäß gesagt hat, begnadete Einzelerzieher versagten manchmal als Klassenlehrer, es gelänge ihnen nicht, die leicht auseinanderflatternden Kinderseelen zusammenzuhalten. Eine Beobachtung, die auch bei vielen Lehrern, die im 19. Jahrhundert zunächst als Privatlehrer, dann als Lehrer an Schulen mit einer größeren Anzahl zu tun hatten, bekannt war (vgl. Delitzsch, 1900). Wenn ich einem Kind etwas beibringen kann, kann ich es noch lange nicht einer Gruppe. Der Pädagoge und Psychologe Winnefeld hat 1948 (1967, S. 143, in der Neuauflage) geschrieben: „Vergrößert oder verkleinert man planmäßig die Gruppen, so gelingt es einigen beobachteten Menschen, auch noch große Gruppen glänzend zu steuern, während andere, die kleinere Gruppen relativ geschickt lenken können, bei größeren Gruppen versagen“. Für Winnefeld erwies sich die Gruppensteuerung als Eigenschaftsproblem des Lehrers/der Lehrerin ebenso für Schüler und Schülerinnen von ihm, z.B. Louis (1976), Schorb (1972) etc. Winnefeld forderte eine Komplexkapazität für Lehrer, die er unterteilte in Wahrnehmungs- und Kontaktkapazität. Beide Eigenschaften braucht man im Einzelunterricht nicht. Auch die personale Geräumigkeit bzw. personale Gewichtigkeit ist eine Fähigkeit, die man insbesondere im Unterricht in Gruppen benötigt: Sie beschreibt eine Fähigkeit des Lehrers, mit sehr unterschiedlichen Typen, unterschiedlichen Fähigkeiten, tolerant und großherzig umgehen zu können. Zugleich muss man viele verschiedene Vorgänge, wahrnehmungs- und kontaktmäßig steuern können.

Eigenschaftskonzeptionen sind immer etwas unbefriedigend, weil sie das Problem des guten Lehrers allein auf Selektion verschieben würden: z.B. wie in Finnland, wo auf 100 Studienplätze im Lehramt etwa 1000 Bewerber kommen. Entscheidend für eine wissenschaftliche Aufklärung ist aber, ob es gelingt, dem Geheimnis dieser Komplexkapazität auf die Spur zu kommen und sie in konkreten Verhaltensweisen beschreiben zu können.

Offenbar erfordern Gruppen, also Mehrzahlen von Schülern, die gleichzeitig unterwiesen werden (das Wort Gruppen ist hier nicht mit einem Unterricht in Schulklassen zu verwechseln, der in Kleingruppen stattfindet), gewisse Anstrengungen, die offenbar der Lehrer oder die Lehrerin oder aber die Schüler oder auch Andere erbringen müssen. Wenn man in einer großen Zahl unterrichtet, bedarf es einer Menge von Voraussetzungen, damit dieser Unterricht gelingen kann. Schulklassen als Gruppen haben Nachteile, sie stören den optimalen individuellen Lernprozess. Folgerichtig finden auch alle Studien, in denen es um Lernerfolg und Gruppengröße geht, einen deutlichen Zusammenhang. Trotz der auch nach PISA immer wieder gehörten Behauptung, es bestünde kein Zusammenhang zwischen Schulklassengröße und Leistungsniveau, ist dies eine völlig falsche Aussage. Richtig ist lediglich, dass innerhalb der aktuell vorfindlichen Gruppengrößen von Schulklassen eine geringe bzw. gar keine Leistungsschwankung besteht. Das heißt zwischen 20 und 35 gibt es keinen messbaren Leistungsunterschiede, wohl aber Mehrarbeit für die Lehrer, die bei dieser Gelegenheit immer gerne verschwiegen wird. Je kleiner die Gruppen, dieser Satz steht ehern fest, desto besser ist der Lernerfolg. Die entscheidenden Untersuchungen stammen von Bloom, von Mathias von Saldern, von Ingenkamp, Petillon und Weiß. Einen wirklichen Qualitätsfortschritt gibt es unterhalb einer Gruppengröße von etwa 17 Personen und noch weiter darunter ist der Lernfortschritt dramatisch: Selbst in einer Zweiergruppe lernt man durchschnittlich langsamer und weniger als in einer Einergruppe. Wenn man so will: Der beste Unterricht ist Einzelunterricht. Der PISA-Sieger Finnland soll Gruppenstärken von 14 Personen haben, liegt also deutlich im positiven Bereich. Dass wir uns heute solche kleinen Schulklassen nicht leisten wollen oder nicht zu können glauben, ist ein politisches Problem.

Die Nachteile bezogen auf den zu erreichenden Lernerfolg von Schulklassen, die zu groß sind, ergeben nun mehr Anforderungen an Lehrkräfte, auch an die Schüler und Schülerinnen, an die Unterrichtsorganisation, an das Schulsystem und an die Bildungspolitik. Alle Instanzen sind dabei gefragt, wenn es um die Überwindung des Gruppennachteils geht. Und zwar aus Kostengründen nicht finanziell, sondern „psychologisch“, d.h. also man fühlt sich persönlich angesprochen, obwohl objektiv so viele in der Klasse sind, deswegen die Bezeichnung „psychologische Reduzierung der Gruppengröße“. Man kann also zur Überwindung des Gruppennachteils ansetzen bei Lehrkräften, bei Schülern und Schülerinnen, bei der Unterrichtsorganisation, beim Schulsystem und bei der Bildungspolitik. Alle hätten die Möglichkeit, den Gruppennachteil zu kompensieren. Bei der Gelegenheit darf man die Eltern natürlich auch nicht vergessen, die durch Erziehung ihrer Kinder zu Wohlverhalten dazu beitragen können, dass der Unterricht angenehmer wird. Die Leistungen, die diese verschiedenen Instanzen erbringen müssen, um den Gruppennachteil zu überwinden, kann man „pädagogische Investition“ nennen.

Wir haben weiter oben schon die Klassenführungstechniken von Kounin kennen gelernt (Allgegenwärtigkeit, Überlappung, Reibungslosigkeit und Schwung, Aufrechterhaltung des Gruppenfokus), die zur Komplexitätsreduktion des Unterrichtsalltags bei der Lehrkraft und ihrem Verhalten ansetzen. Das ist aber nicht die einzige Möglichkeit, um die Komplexität im Unterricht zu reduzieren, sonst wären Studien nicht denkbar, in denen sehr unterschiedliches Lehrerverhalten zu positiven Leistungszuwächsen führen kann. Es gibt also eine ganze Reihe von Strategien zur psychologischen Reduzierung der Gruppengröße, also „funktionale Äquivalente“. Zum Beispiel: Die „Zusammensetzungsstrategie“ – weil alle ähnlich sind (homogen) bzw. weil alle verschieden sind und sich gegenseitig helfen können (heterogen). Oder die „Norm- und Sanktionsstrategie“ – weil alle brav, einsichtig, gehorsam und moralisch werden und sich im Unterricht angepasst verhalten, ist die Gruppengröße keine großer Nachteil. Oder die „Ursachenstrategie“ – weil alle von zu Hause aus durch die elterliche Erziehung für die Schule angepasst werden, sich dort ordentlich zu verhalten. Oder die „Attraktivitätsstrategie“ – der Unterricht ist so spannend, dass alle vom Unterricht fasziniert sind, so dass man eine Stecknadel fallen hören könnte und deshalb der Gruppennachteil nicht gravierend wirkt. Oder die „Steuerungsstrategie“ – weil der Unterrichtsstil die Komplexität reduziert (so etwa wie bei der Realisierung der Kounin-Dimensionen). Die „Hilfslehrkraftstrategie“ – weil Helfer (Material, Computer, Arbeitsblätter, andere Personen) mithelfen. Oder die bekannteste Strategie, die „Differenzierungsstrategie“ – weil fast jeder nach seiner Eigenheit unterrichtet werden kann - hierunter fallen alle Versuche der Individualisierung und Binnendifferenzierung von Unterricht etc.

Ansätze wie Offener Unterricht wären eher der Differenzierungsstrategie zuzurechnen, ebenso Projekte. Frontalunterricht baut auf verschiedenen Strategien auf, u.a. auf der Attraktivitätsstrategie, auf der Norm- und Sanktionsstrategie und der Steuerungsstrategie. Der reale Unterricht schwankt von einer Strategie zur anderen, kaum jemand hält ja 45 Minuten lang einen Vortrag, in dem sich keiner zu Wort melden kann. Aber im Extremfall könnte auch ein solcher Vortrag, wenn er denn spannend und fesselnd ist, einen Lernerfolg bei den Schülern und Schülerinnen erzielen. Wer das nicht kann, muss etwas anderes machen. Wer Frontalunterricht nicht optimieren kann, so dass die Gruppengröße psychologisch reduziert ist, alle durcheinander schwätzen, sich langweilen etc., sollte einen anderen Unterrichtsstil favorisieren. Nur: Wer keine anderen Unterrichtsformen als den Offenen Unterricht beherrscht, sollte nicht so tun, als seien alle anderen Möglichkeiten des Unterrichthaltens von vornherein rückständig und altmodisch und würden keine Effekte haben. Das ist eine durchsichtige Strategie der Selbstwerterhöhung. Auch die zurzeit unbegründeter Weise populären Klippert-Techniken sind, wenn sie denn optimal angewendet werden, eine Mischung aus verschiedenen Strategien, um die Nachteile der Gruppengröße zu reduzieren. Es kommt also, so die Theorie der psychologischen Reduzierung der Gruppengröße, darauf an, dass die Schüler in jeder Unterrichtsstunde das Gefühl haben, dass sie im Lernprozess etwas vorangekommen sind, dass sie etwas gelernt haben, dass sie mitgemacht haben und dass sie andere vom Lernerfolg nicht abgehalten haben, d.h. also nicht gestört haben. Guter Unterricht ist also ein Unterricht, in dem es wenig Fehlverhalten gibt und eine hohe Mitarbeitsrate – mit welcher Art von Unterrichtskonzeption man dieses Ziel erreicht, scheint völlig egal zu sein.

Es gibt – so diese Theorie – keine Unterrichtskonzeption, die voraussetzungslos wäre. Nehmen wir die Kounin Techniken als Beispiel. Zur Vermeidung von Zeitfehlern soll man Störungen sofort bemerken und das Bemerken den Störern signalisieren. Man muss dazu nicht herumschreien – fixieren, im Sprechen innehalten, freundlich nachfragen etc. reicht. Was aber, wenn die Schüler auf meine freundliche Nachfrage nicht reagieren? Sie müssten Voraussetzungen mitbringen, z.B. den Anordnungen des Lehrpersonals Folge leisten können. Oder die Tatsache, dass Lehrkräfte im Unterricht alles mitbekommen, als angenehme, psychologische Reduzierung der Gruppengröße wahrnehmen, die sie zur Mitarbeit motiviert. Auch Wohlverhaltensverträge funktionieren nur, wenn die Schüler sich an Verträge halten. Auch Projektunterricht oder offener Unterricht funktioniert nur, wenn Schüler bestimmte Voraussetzungen mitbringen. Empirische Studien zur Wirksamkeit von pädagogischen Maßnahmen gelten also nur, wenn bestimmte Voraussetzungen bei den Adressaten erfüllt sind. Eine gewisse Ausnahme sind die Cialdini Techniken – aber auch bei diesen sind Voraussetzungen denkbar, unter denen nichts funktioniert.

Die beliebten Spielchen, dass man Methoden des Unterrichts gegeneinander ausspielt oder die Verantwortlichkeiten auf Rahmenbedingungen, auf Eltern, auf Lehrer, auf die Bildungspolitik etc. alleine verschiebt, sind im Lichte dieser Theorie Schnee von gestern bzw. ein überflüssiges Diskussionsspielchen. Alle Instanzen haben ihren Beitrag zur Reduzierung des Gruppennachteils zu leisten. Fangen wir bei den Schülern und Schülerinnen an: Durch Wohlverhalten, durch die Fähigkeit zum Bedürfnisaufschub, zur Frustrationstoleranz, durch Regelbeachtung, durch Anpassung ans Kollektiv, durch Mitwirkung am Unterrichtsprozess, durch ordentlich geleistete Hausaufgaben, durch einen gewissen Gehorsam gegenüber Lehreranordnungen (ich will keine blinden Untertanen erziehen, weiß Gott nicht), durch Einsicht in das Notwendige einer kollektiven Unterweisung tragen Schüler und Schülerinnen dazu bei, dass Unterricht funktionieren kann. Die Eltern können ihre Kinder, besser als es heute geschieht, auf die Schule vorbereiten, sie können das schulische Regelsystem unterstützen, mit ihren Kindern darüber reden, wie man sich in einer Gruppe verhält, wie man sich bei Frustrationen und vorübergehender Langeweile beherrscht etc. Gute Eltern geben ihren Kindern nicht die Botschaft mit: „Ich, Ich, Ich, Ich“, sondern teilen ihnen mit, dass die individuelle Selbstverwirklichung in Gruppen wie den Schulklassen an Grenzen stößt und dass diese Grenzen eingehalten werden müssen, sonst kann das ganze System nicht funktionieren. Die Lehrer tragen in vielen Fällen die Hauptlast der Komplexitätsreduktion, z.B. durch Materialvorbereitung, durch Unterrichtsplanung, Didaktik, Methodik, Organisation, durch Techniken des Lehrkraftverhaltens, durch Training und Fortbildung, dadurch dass sie eine psycho-physische Belastung auf sich nehmen, die mit anderen Berufen, insbesondere Büroberufen, kaum zu vergleichen ist, indem sie ihre Nerven und ihre Vigilanz opfern. Für den gelingenden Unterricht ist natürlich auch das Schulsystem und die Bildungspolitik verantwortlich. Die Kosten, die sie für das Schulsystem erübrigen, insbesondere für die Gruppengrößen, die Angemessenheit der Bauten, das Material, die Homogenisierung oder Heterogenisierung der Schülerschaft, der Lehrkraft-SchülerInnen-Quotient, die Ausbildung der Lehrkräfte, die Arten der äußeren Differenzierung oder ihr Fehlen, aber auch die finanzielle Sicherung einer erziehungswissenschaftlichen, erziehungspraktischen Infrastruktur fallen zu Lasten des Schulsystems und der Bildungspolitik. Ihr Beitrag ist, wenn er denn wirksam sein sollte, beschränkt auf alle Maßnahmen, die eine Verringerung des Nachteils der zu großen Zahl betreffen: Alle anderen Maßnahmen sind Tangentialisierungen (d.h. sie treffen das Wichtige nicht), Marketinggags oder die Realisierung von ideologischen Phrasen, insbesondere Soziologismen und Psychologismen.

So haben denn alle Beteiligten eine ganz klare Zielstellung, nämliche die psychologische Reduzierung der Gruppengröße. Man könnte, so habe ich das 1995 getan, einen Erhaltungssatz der pädagogischen Investition formulieren: „Bei allen Strategien der psychologischen Reduzierung der Gruppengröße bleibt die Gesamtsumme der pädagogischen Investitionsenergien gleich“. Wenn wir Schüler und Schülerinnen bzw. Eltern haben, die keinerlei Voraussetzung für den Unterricht in den Klassen schaffen bzw. beherrschen, so bleibt die Gesamtlast auf Lehrern und dem Schulsystem hängen. Das Unterrichten und die Anstrengungen der Bildungspolitik werden schwieriger. Wenn – ein seltener Fall – die Schülerinnen und Schüler außerordentlich brav sind, die Eltern ihre Kinder optimal vorbereitet haben, wäre mit einem Nachlassen von Schulsystemenergie und Lehrkraftenergie zu rechnen. Wer tolle Schüler und Schülerinnen hat, für den ist Unterricht durchaus leicht, egal, was er für einen Unterrichtsstil praktiziert.

Die Formulierung von Bildungsstandards, die die Kultusministerkonferenz aktuell beschlossen hat, sind keinerlei Beitrag zur psychologischen Reduzierung der Gruppengröße, sondern eher ein völlig nebensächlicher Vorgang, der in billiger Art und Weise zu bewerkstelligen ist und außerdem nur das aufgreift, was ohnehin in Richtlinien oder im lernzielorientierten Unterricht seit etwa 30 Jahren virulent ist. So kann man auch mit der Theorie der psychologischen Reduzierung der Gruppengröße Maßnahmen zur Verbesserung des Unterrichtes bewerten.

Was bedeutet das für die einzelne Lehrkraft? Unterrichtsstil und Unterrichtskonzeption ist zunächst einmal beliebig. Man kann alle Konzeptionen und Stile und sein eigenes Verhalten optimieren, aber den Unterrichtserfolg auch dadurch erhöhen, dass man die Voraussetzungen bei den Schülern und Schülerinnen schafft, dass mit allen Unterrichtskonzepten ein optimaler Lernfortschritt erreicht werden kann. Das hat weitgehende Konsequenzen für die Aus- und Fortbildung von Lehrern, auch für deren Beurteilung. Es kommt nicht darauf an, wie sie unterrichten, sondern darauf, ob sie mit ihrer Art des Unterrichtes die psychologische Reduzierung der Gruppengröße erreicht haben. Lehrer sollten das unterrichten, von dem sie glauben, dass sie das mit ihren eigenen Kräften optimieren können. Sie müssen es auf die SchülerInnen- und Elternvoraussetzungen ebenso anpassen, wie auf ihre eigenen Möglichkeiten. Nicht jeder Lehrer kann einen optimalen Frontalunterricht machen, genauso wenig wie jeder Lehrer einen optimalen Offenen Unterricht machen kann. Es gibt Offenen Unterricht, der sich vom Chaosunterricht in nichts unterscheidet und zu null Lerneffekten führt, weil er falsch realisiert wurde. Genauso gibt es natürlich komplett langweiligen Frontalunterricht, bei dem die Schüler mehr oder weniger schlafen oder anderen Tätigkeiten nachgehen.

Der Zielzustand wurde von McGrath, einem Gruppenpsychologen, als „Entrainment“ bezeichnet, d.h. soviel wie Zugbesteigung. Die Schüler steigen in einen Zug am Bahnhof vorne oder hinten ein, wenn der Unterricht beginnt, der Zug also abfährt, werden alle vorangebracht. Der wirklich geniale Vordenker der internationalen Unterrichtsforschung, Jacob Kounin, hat bei seinen Forschungen im Kindergarten den Begriff der „Signalkontinuität „kreiert, der soviel sagt wie, dass eine „Vollbeschäftigung im Unterricht“ erreicht wird, egal mit welchen methodischen Mitteln. Das ist genau der Punkt: Wir versuchen manchmal krampfhaft und manchmal ohne die richtige Einsicht in die Zusammenhänge, den Unterricht in Klassen so zu organisieren, dass er dem Einzelunterricht ähnlich wird. Erst dann ist er gut.

Wenn Ihr Unterricht nicht so ist, wie Sie sich das wünschen
Tipps von Rainer Dollase

  • Sie sind nicht in Form gewesen (krank, durch private Probleme abgelenkt etc.).
  • Sie haben zu wenig Zeit in die Unterrichtsvorbereitung investiert.
  • Sie wissen zu wenig über Ihre Schüler und Schülerinnen.
  • Sie haben keine positiven Beziehungen zu Ihren Schülern und Schülerinnen,
       Sie mögen sie nicht ...
  • Sie sind unbemerkt kalt, desinteressiert an den Schülern und Schülerinnen,
       gemein oder verhalten sich nicht reversibel ...
  • Sie haben Ihren Schülern und Schülerinnen den Sinn des Stoffes nicht
       deutlich klar gemacht, der praktische Nutzen bleibt unklar ...
  • Sie gehen nicht aus sich heraus, sind nicht enthusiastisch,
       nicht überzeugend ...
  • Sie haben im Unterricht keine Vollbeschäftigung erreicht.
  • Sie finden den Unterrichtsstoff auch langweilig.
  • Sie verwenden immer wieder dieselben Unterrichtsmethoden,
       Sie haben zu wenig Abwechslung im Unterricht realisiert.

  • 5. Nachwort zur Steuerung von Qualität ...

    Die internationale empirische Unterrichtsforschung ermittelt also über den guten Unterricht Ergebnisse, die erfahrene Praktiker/Praktikerinnen – sofern sie sich nicht nach den aktuell modernen Moden- richten, um damit den Aufstieg im Schulsystem zu schaffen bzw. die Belobigung vom Schulrat zu bekommen – so ungefähr immer geahnt haben. Eine Konvergenz zwischen sehr guten Praktikern und der empirisch wissenschaftlichen Erforschung des guten Unterrichtes ist keineswegs unanständig oder macht die eine oder andere wissenschaftliche oder praktische Erfahrung unnötig, sondern eine solche Konvergenz muss das Ergebnis einer sorgfältigen Forschung wie einer sorgfältig beobachteten und dokumentierten guten Praxis sein.

    Leider gelten vor allen Dingen in Reformzeiten überraschende, schräge Reformen merkwürdigerweise immer als besser als bewährte und in der Tradition optimierte Verfahren. Dass etwa die Kultusministerkonferenz jetzt in der Formulierung von Bildungsstandards irgendeine Chance zur Verbesserung des Unterrichtes sieht, ist der schlichten Tatsache geschuldet, dass sie nicht weiß, dass seit Jahrzehnten Bildungsstandards in Form von Richtlinien in nahezu allen Bundesländern existieren, dass Stoffverteilungspläne für Schuljahre gemacht werden und dass in Klassenbüchern dokumentiert wird, was man im Unterricht getan hat. Diese sehr altmodischen Instrumente sind im Grunde genommen genau das, was heute mit neuen Vokabeln, Bildungsstandards, Evaluation, Dokumentation etc., gewollt wird. Nicht jeder Schritt rückwärts, den uns Reformer als Fortschritt verkaufen, muss deshalb richtig sein. In Zeiten der Reformen ist es nicht sinnvoll irgendetwas zu tun, sondern das Richtige zu tun. Die Diffamierung von Wissenschaftlern und Praktikern als Bedenkenträger zeigt einen bedenklichen Zustand jener, die für die Bildungs- und Schulpolitik Verantwortung tragen. Ihren aus Nichtwissen geborenen Spontanideen darf man nicht widersprechen – die permanente Neuerfindung des Rades darf nicht gestört werden, weil man ihre Spielchen somit verdirbt.

    Wie soll man eine verbesserte Qualität in unserem Schulsystem erreichen? Der einfachste Weg wäre, wenn man Lehrerausbildungsinstitutionen hätte, in denen Professoren mindestens einmal im Jahr einen Monat lang eine schwierige Sekundarstufe I Klasse übernähmen (keine S II Klasse) und ihre weltabgehobenen Ideologien dort vor Ort testen. Wenn also die Professorinnen und Professoren, die unsere Lehrer und Lehrerinnen ausbilden, selber Experten für die Praxis wären. Dann hätten wir einen Zustand wie in der Medizin. Ein Chirurgieprofessor kann seinen Studierenden auch die Entfernung eines Blinddarms vormachen und die Studierenden lernen durch Beobachtung, also durch Vormachen und Nachmachen, wie man so etwas tut. So geschieht es in der Erziehungswissenschaft seit 20-30 Jahren nicht mehr: Fachfremde Professorinnen und Professoren (in gewisser Weise bin ich als Psychologe selbstverständlich auch fachfremd, meine praktischen Unterrichtserfahrungen habe ich bei einem Jahr Unterricht in der Bundeswehr erworben) phantasieren auf der Basis von Literatur sich neue pädagogische Theorien zusammen, bilden im Brustton der Überzeugung Lehrkräfte aus, die dann den Stoff in Prüfungen perfekt herunterrasseln, ohne in irgendeiner Form irgendetwas für die Praxis gelernt zu haben. Die Erläuterungen der Intelligenzentwicklung nach Piaget hilft keinem Lehrer, keiner Lehrerin, die Intelligenz ihrer Kinder in der Schule zu steigern.

    Wir brauchen eine erziehungswissenschaftliche und eine erziehungspraktische Infrastruktur, d.h. was sich in der Praxis bewährt hat (erziehungspraktische) bzw. in bedingungskontrollierten Unterrichtsexperimenten als günstig erwiesen hat (erziehungswissenschaftliche), muss sorgfältig dokumentiert werden und neue Forschungen müssen die alten zur Kenntnis nehmen und zeigen, an welcher Stelle sie eine Verbesserung durch neue Ideen nachweisen können. Dieses Prinzip ist in allen ernsthaften Wissenschaften durchgängig so. Wer in Physik promovieren will, muss nachweisen, dass er die relevante Literatur kennt und dass er eine Lücke gefunden hat bzw. etwas anders beweisen kann, als es bisher geschehen ist. Warum sollte ein so einfaches Prinzip in den Erziehungswissenschaften nicht möglich sein?

    Auch die 2. Phase der Lehrerausbildung ist dringend reformbedürftig: Wir brauchen Ausbilder und Ausbilderinnen, die ihren Referendaren den optimalen Unterricht vormachen können, nicht solche, die hinten sitzen und nur Noten verteilen, aber selbst nicht in den Ring steigen. Die Unehrlichkeit, die damit verbunden ist, dass die Bewerter es selber nicht besser machen müssen, ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sich eine pragmatische Sicht auf Unterrichtsqualität in Deutschland nicht durchsetzen konnte. Manche in der Öffentlichkeit als Experten für Unterricht herumgereichte Professoren und Professorinnen der Pädagogik bzw. Pädagogischen Psychologie sind noch nicht einmal in der Lage, Vorlesungen zu halten, in denen die Studierenden ruhig sind. Die Schwätzerei in Vorlesungen und Seminaren nimmt derartig zu, dass man am pädagogischen Talent der Pädagogen, selbst für eine Institution wie die Universität, die es mit ausgelesenen und gut vorgebildeten erwachsenen Menschen zu tun hat, zweifeln muss.

    Während der ideale Weg eigentlich völlig klar ist – Ausbildung und Weiterbildung durch Personen, die es selber wirklich gut können, verbessern – tut Bildungs- und Schulpolitik natürlich nicht dieses, weil ihnen der Weg zu teuer oder zu mühselig oder zu langwierig erscheint. Sie wollen schnell agieren. Die billigste Methode war die Formulierung von Bildungsstandards oder es sind Reformen, die an der Struktur und an der Organisation des schulischen Lebens etwas ändern. Wir erinnern uns, dass organisatorische Variablen nur einen klitzekleinen Beitrag zur Unterrichtsverbesserung leisten und dass es viel mehr darauf ankommt, Unterricht zu verbessern. Wenn man so will, ist das eine sehr umständliche Qualitätssteuerung, die ich scherzhaft schon mal „rektale Zahnbehandlung“ genannt habe, weil sie den umständlichsten Weg zur Qualität nimmt. Dabei wäre der direkte Weg zur Verbesserung und Praxisnähe von Aus- und Fortbildung keineswegs so aufwendig, sondern er würde lediglich an den Pfründen von pädagogischen Tagungs- und Kongressfuzzis, die sich in Beiräten tummeln und deswegen noch nicht mal Zeit haben, ihre Lehrveranstaltung an der Uni ordentlich vorzubereiten, etwas wegnehmen würde. Für das Ranking von Professorinnen und Professoren, die in der Lehrerausbildung tätig sind, müssten solche monatlichen Übernahmen von Schulklassen genauso zählen, wie die Einwerbung eines bedeutsamen DFG-Projektes. Erst dann bestünde auch ein Anreiz, sich tatsächlich mit der Verbesserung von Praxis zu beschäftigen, statt nur daran zu arbeiten, wie man möglichst viel Papier produziert und in dem selbstreferentiellen System Wissenschaft seine Meriten erwirbt.

    Für die direkte Verbesserung der Qualität von Unterricht haben Ingenieure (in Ostwestfalen veranstalten Ingenieure Fortbildungsveranstaltungen für Lehrer und Kindergärtnerinnen), Unternehmensberater (deren Aufgabe sollte es sein, mehr Arbeitsplätze zu schaffen), Juristen und Marketingfachleute überhaupt keinen Wert. Sie gehören nicht ins Schulsystem und sie sollten vor allen Dingen keine Führungsaufgaben übernehmen. Im pädagogischen System dürfen nur solche Personen aufsteigen, die nachgewiesener Maßen hervorragende Lehrer sind, d.h. die schwierigen Klassen etwas beibringen können. Es sollte nur derjenige zum Schulleiter, zum Schulrat und weiter aufsteigen, der auch eine nachgewiesene pädagogische Autorität ist. Das bisschen Management kann dann in Wochenendkursen nachgelernt werden. Nicht umgekehrt: Die Betriebswirte halten ihr Gebiet für derartig kompliziert (dabei ist es in seiner Primitivität kaum noch zu unterbieten), dass sie die betriebswirtschaftliche Managementausbildung für das Hauptsächliche halten und das Lehren und Lernen organisieren für ein nebensächliches Produkt halten, als „Training on the Job“ müsste es nach ihrer Diktion ausreichen. Das ist ein völlig irrer Weg, der ebenfalls nur in die Qualitätssenkung führen kann. Unterricht halten, mit Menschen umgehen, Therapie machen, Menschen verändern, Menschen begeistern ist ein ungleich schwierigerer Job, der mit den Mätzchen des Managements kaum zu bewältigen ist. Die Ausbildung zum Lehrer/zur Lehrerin muss länger dauern, als die Ausbildung zum Manager.

    Insofern ist auch das Qualitätsmanagement ein ungeeigneter Weg zur Verbesserung von Qualität. Natürlich existieren auch schon erste Untersuchungen darüber, dass ein Wettbewerbssystem zwischen Schulen keineswegs die Qualität der Lernergebnisse verbessert und dass diese kybernetischen Primitivschleifen -Standards festlegen, agieren , Evaluationen machen, aus Evaluationen lernen (früher nannte man das Test-operate-Test-Schleifen) - eine erhebliche Investition in Transparenz- und Evaluationskosten erfordern, die das ganze System auch noch teurer machen als bisher. Die Realisierung des Prinzips Vormachen – Nachmachen ist billiger als die Organisation eines Qualitätsmanagements.

    Ein weiterer Irrweg zur Qualitätsverbesserung scheint in diesen unendlichen Konferenzen und extra unterrichtlichen Aktivitäten zu liegen, die den Lehrern und Lehrerinnen die Zeit für die Vorbereitung des Unterrichtes (siehe oben) nehmen.

    Einem Merkblatt eines Gymnasiums zur Entwicklung der Profiloberstufe entnehme ich folgende 10 Schritte:
     1. Ausschuss: Vorschlag einer Grobstruktur der Profile
         (u.a. beteiligte Fächer und Kursarten).
     2. Lehrerkonferenz: Diskussion des Vorschlags, Korrekturen, Ergänzungen.
     3. Ausschuss: Einarbeiten der Korrekturen, Ergänzungen.
     4. Abstimmung des geänderten Vorschlags mit der Lehrerkonferenz,
         Information der Schulkonferenz.
     5. Information der Fachkonferenzen, Wahl von Mitgliedern
         für eine Fächer verbindenden Profilausschuss.
     6. Fachkonferenz verbindende Profilausschüsse: Erarbeitung einer Feinstruktur
         des jeweiligen Profils, ggf. Abstimmung mit den Fachkonferenzen.
     7. Information der Lehrerkonferenz und Diskussion der Profile.
     8. Modifizierung der Profile durch die Profilausschüsse.
     9. Beratung der Profile in der Schulkonferenz.
    10. Entscheidung der Schulleitung über die Profile.

    Ein solcher Orgasmus an Konferenz- und Abstimmungsprozessen vernichtet Lehrerarbeitszeit für völlig unsinnige und banale Tätigkeiten und wird zu keinerlei Verbesserung der Qualität unseres Schulsystems führen.

    Statt dessen sollte man sich, wenn schon auf Organisationsentwicklung, dann doch auf den Fortschritt der Organisationsentwicklung in den Jahrzehnten, in denen sie innerhalb der Betriebspsychologie erforscht worden ist, besinnen. Ein wesentlicher Punkt heißt darin nämlich auch, dass es eine Kritik von unten nach oben, auch eine Steuerung von unten nach oben geben muss. Evaluiert werden nicht nur Lehrer und der Lernerfolg ihrer Schüler, sondern selbstverständlich von den Lehrern auch die Schulleiter, von den Lehrern und den Schulleitern auch die Schulräte und von allen zusammen natürlich auch die Bildungs- und Schulpolitik. Eine Einbahnstraße des Controlling ist bei einer wirksamen Organisationsentwicklung nie mitgedacht worden. Seit den Hawthorne-Studies, Ende der 20er Jahre in den USA, ist bekannt, dass insbesondere auch die Kritikmöglichkeit von unten nach oben zur Qualitätssteigerung eines Unternehmens oder einer Institution beitragen kann.

    Schließlich und endlich – eine Wertkontingenz muss den Umgang der Politik mit der Schule, den Umgang der Schulaufsicht mit den Schulen, den Umgang der Schulleitung mit den Kollegien, den Umgang der Lehrkräfte miteinander, den Umgang der Lehrkräfte mit den Schülern und Schülerinnen, den Umgang der Schüler und Schülerinnen miteinander, den Umgang der Eltern mit den SchülerInnen und LehrerInnen kennzeichnen, und zwar müssen in allen Beziehungen dieselben Werte von Akzeptanz, Empathie und Kongruenz realisiert werden. Der Entwicklung einer parasitären Führungskaste, die nur noch kontrolliert und Fristen setzt und Ansprüche formuliert, es aber nicht vormachen kann, wie man es besser unter den gegebenen Rahmenbedingungen machen kann, ist überflüssig und ein gravierendes Hindernis auf dem Weg zu mehr Qualität von Unterricht.

    RD/1/2004
    Nachschrift eines freien Vortrags auf der xxx. Jahrestagung der katholischen Realschullehrer/innen



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    Bildung in Finnland