Landesnachrichten
Zeitschrift der Deutsch-Finnischen Gesellschaft Nordrhein-Westfalen e.V.
Nr. 81 - Februar 1996
Zwischen Trennung und Zusammenführung
Kareliens Wurzel liegen tief
Eine Region entwickelt sich
nach Heikki Kirkinen
Nordkarelien ist die östlichste Provinz Finnlands, ein Teil des vorgeschichtlichen alten Kareliens, das Land des finnischen nationalen Epos Kalevala.
Die Karelier gehören neben finnischen Volksgruppen zu den ältesten Stammesgemeinschaften der Region. Während des ersten Jahrtausends n.Chr. entwickelten sich diese Stämme. Menschen ließen sich nieder, zunächst als Jäger und Fischer, später auch als Ackerbauern. Sie kamen aus allen Himmelsrichtungen. Die ursprüngliche karelische Lebensart zeigt sich in den archäologischen Funden der Wikingerzeit ab dem 9. Jahrhundert. Die früheste Ära der aufblühenden und fortschreitenden Zivilisation läßt sich im 11. und 12. Jahrhundert am West-, Nord- und Nordwestufer des Ladogasees ausmachen.
Karelien begann am Ladogasee
Die Karelier zeigt sich in dieser Zeit besonders im Pelzhandel erfolgreich. Die Pelze wurden entlang der Wasserrouten über Nowgorod, Dnjepr und Wolga bis zu den reichen Ländern im Süden und Osten und sogar bis nach Byzanz und in die arabischen Länder verkauft. Die archäologiscen Funde belegen, daß reiche karelische Dörfer existierten, in denen hochgradiges Handwerk und ein guter Sinn für ästhetischen Schmuck vorhanden war.
Das alte Karelien expandierte von den Ufern des Ladoga-See bis zum heutigen (finnischen) Nordkarelien und bis zum Weißen Meer. Kleine Gruppen karelischer Siedlungen befanden sich sogar an der Nordküste des Bottnischen Meerbusens.
Nordkarelien wurde von den Kareliern um den Ladoga-See als Hinterland angesehen. Die große Wildnis war reich an Wild und Fisch.
Von Byzanz aus verbreitete sich das Christentum über Nowgorod bis nach Karelien. Die Missionsarbeit unter den Kareliern begann im 11. Jahrhundert. Die Karelier lernten, ihre eigene finnische Tradition mit den grundlegenden Aussagen der neuen Religion zu verbinden. Dies zeigt sich in den karelischen Sitten, in den Trauergesängen und in magischen Versen, in der Lyrik und der epischen nationalen Dichtung.
Karelien - mal schwedisch, mal russisch
Die geographische Position zwischen den beiden großen Mächten Schweden und Rußland forderte die Karelier heraus, ihr Schicksal zu gestalten. Ab dem 10. Jahrhundert versuchten die Schweden, den Katholizismus des Westens aber auch ihre eigene Macht in Finnland zu verbreiten. Das Rußland Nowgorods dagegen strebte die Verbreitung der Religion des Ostens sowie die eigene Verwaltung in Karelien an. Das Ergebnis: eine Reihe kriegerischer Auseinandersetzungen im 12. Jahrhundert. Nowgorod besetzte die Ufer des Ladoga-Sees, während Schweden einen Kreuzzug nach Wyborg (Viipuri) unternahm und dort eine Burg zur Sicherung der Vorherrschaft baute. Sie Kriege dauerten bis zum Jahre 1323 an. Dem Friedensvertrag folgend wurde Karelien zwischen Rußland und Schweden aufgeteilt. Die Grenze verlief über die karelische Landenge entlang der Wasserrouten nach Nordwesten bis zur nördlichen Küste Österbottniens. Die Karelier und ihre Identität erfuhren eine Teilung: das Karelien von Wyborg verwurzelte sich in Finnland, das Karelien von Kakisalmi wurde von Nowgorod übernommen.
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts eskalierten erneut die kriegerischen Handlungen zwischen Schweden und Rußland. Nach dem Friedensabkommen von 1595 wurde die Grenze in die Nähe der Westgrenze des heutigen Nordkareliens verschoben. Das Friedensabkommen von Stolbova 1617 gab Schweden - inzwischen Großmacht - auch das Karelien des Ladoga-Sees. Damit kam Nordkarelien zum ersten Mal mit der schwedischen und damit mit der westlichen Zivilisation in Berührung. Die heutige Lage der Ostgrenze der Provinz stammt aus dieser Zeit. Die Angleichung der sich inzwischen unterschiedlich entwickelten Kulturen in Karelien war anfangs nicht leicht. Zudem erhob Schweden in den besetzten Gebiete hohe Steuern, und es versuchte, die Menschen zum lutherischen Glauben zu bekehren. Infolge dieses Zwangs floh fast die Hälfte der Einwohner Nordkareliens nach Rußland, wo sie ein sogenanntes "Karelien der Tver" gründete. Siedler lutherischen Glaubens rückten nach und besetzten die freigezogenen Räume; der orthodoxe Glaube bildete eine Minderheit.
Peter der Große besetzte Wyborg und das Karelien des Ladogasees im frühen 17. Jahrhundert. Nach dem Friedensabkommen von 1721 verlief die Grenze fast exakt wie die heutige. Das Friedensabkommen trennte erneut die Verbindung zwischen Nordkarelien und Ladoga-Karelien. Nordkarelien begann sich wirtschaftlich zu entwickeln und hatte recht gute Verbindungen über die Inlandwasserrouten zu den Ostseeküsten Finnlands. Verwaltungsmäßig kam die Provinz zum Bezirk Kuopio.
Wurzeln finnischer Kultur werden in Karelien wiederentdeckt
Der russische Zar Alexander I vereinbarte 1807 in Tilsit mit Napoleon die Abgrenzung der Interessensphären, und in der Folge wurde Finnland 1808/ 1809 von Rußland erobert. Finnland wurde autonomes Großfürstentum; der Zar gab das Gebiet wieder zurück, das in den Kriegen des 17. Jahrhunderts russisch geworden war, so auch die Grafschaft von Wyborg. Das gesamte Gebiet des finnischen Kareliens war wieder verbunden. Dank der in Karelien entdeckten nationalen epischen Dichtkunst und der Sprachenforschung der finnischen Sprache begann die nationale Kultur Finnlands sich herauszubilden, sich zu
festigen und sich auszubreiten. Die internen Auseinandesetzung im finnischen Karelien begannen zu schwinden, ein gemeinsamer Geist entwickelte sich, und auch die Menschen orthodoxen Glaubens im Karelien des Ladoga-Sees nahmen am Entwicklungsprozeß der nationalen Kultur Finnlands teil. Hieraus entstand eine starke finnisch-karelische Identität. Die Tradition von Kalevala verband die Menschen auch mit den Menschen Rußland-Kareliens, sowohl in kultureller wie auch dann in wirtschaftlicher Weise.
2. Weltkrieg bringt wieder Teilung
Der Angriff der Sowjetunion gegen Finnland im November 1939 und der durch den Winterkrieg aufgezwungene hohe Tribut setzte der Entwicklung ein Ende. Im Friedensabkommen von Moskau im Jahre 1940 mußte Finnland den Hauptteil seines Kareliens an die Sowjetunion abtreten. Die aus den abgetretenen Gebieten Kareliens evakuierte finnische Bevölkerung wurde überwiegend in Ost- und Südfinnland angesiedelt.
Neubeginn und neue Wege
Man nahm an, daß Finnisch-Karelien bald schwinden würde. Aber die Karelier hatten eigene Pläne; sie fingen eifrig an, ihre eigene Kultur zu pflegen - unter dem Schutz des freien und unabhängigen Finnlands.
Nordkarelien hatte einen gelungenen Start und entwickelte sich gut in verwaltungsmäßiger und wirtschaftlicher Sicht. 1960 wurde Nordkarelien sogar eigener Verwaltungsbezirk. Auf diese Weise wurde die karelische Identität gefestigt. Die recht schnelle Umgestaltung von einer agrar-strukturierten Provinz zu einer modernen Industriegesellschaft veranlaßte allerdings viele Menschen wegzuziehen; der Fortschritt verlangsamte sich in der Region.
Mit der Gründung der Universität von Joensuu im Jahre 1969 sah die Zukunft für die Menschen der Region schon besser aus. Das heutige Nordkarelien sucht weiterhin die eigene Identität zu entwickeln. Die Mentalität der Menschen
zeigt die Verschmelzung der verschiedenen Perioden der Vergangenheit. Das alte karelische Gesicht hat mit den russisch-karelischen Flüchtlingen der frühen zwanziger Jahre und mit den Zuwanderern der abgetretenen karelischen Gebiete von 1940 ein neues Aussehen erhalten. Die Menschen aus Savo, die im frühen 16. Jahrhundert hierher gezogen waren, haben den Dialekt und die Identität Nordkareliens zwar stark beeinflußt, aber sie haben auch Elemente der beheimateteten karelische Kultur der Region aufgenommen. Die Einwohner der Provinz schätzen es sehr zu zeigen, wer sie sind, woher sie kommen und wofür sie stehen. Nordkarelien hat die Herausforderung angenommen, die karelische Kultur in Finnland zu festigen. Gleichzeitig entwickelt Nordkarelien die Zusammenarbeit mit den heute russischen Siedlungen Sortavala, Aunus und Petroskoi sowie mit dem sagenumwobenen Land von Kalevala in Russisch-Karelien.
Heikki Kirkinen, geb. 1927. Professor (em.) für Geschichte. Rektor der Universität Joensuu von 1971 bis 1981. Gastprofessur für sechs Jahre an der Sorbonne Universität.
Der Orginalartikel erschien unter dem Namen "Birth of Karelia" in "Karelien Review" 1995. Übersetzung aus dem Englischen: Patrick Gotthardt, Fabian Fuhr. Überarbeitet von Bernhard Marewski.
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Karelier der Frühzeit
Die Heimat liegt am Ladogasee
von Svetlana Ivanova Kotshkurkina
Vor mehr als tausend Jahren besiedelten frühzeitliche Karelier die nordwestlichen Ufer des Ladogasees. In russischen Chroniken waren sie erstmalig 1143 unter dem Ethnonym "Korela" erwähnt. Von diesem Zeitpunkt an erschienen immer wieder Nachrichten über Karelier in russischen Annalen nachfolgender Jahrhunderter. Von ihnen erzählen bei archäologischen Ausgrabungen in Nowgorod geborgene Urkunden aus Birkenrinde aber auch westeuropäische Quellen und uralte skandinavische Sagen.
Eine solche Beachtung ist darauf zurückzuführen, daß sich die frühzeitlichen Karelier im 12.- 15. Jahrhundert im Grenzgebiet von befeindeten Staaten befanden: Schweden und Nowgorod. Mit Hilfe der Nowgoroder Streitkräfte schützten Karelier die Westgrenzen des Nowgoroder Staates und ihr Land, und sie leisteten heftigen Widerstand dem Feind.
Zur Zeit sind auf solchen Gebieten wie Linguistik, Toponomastik Ortsnamenlehre), Ethnographie, Folklore und besonders Archäologie wertvolle Angaben angesammelt, die es erlauben, bedeutende Fragen der Urgeschichte von Kareliern aufzuklären: Sie ermöglichen, deren Ansiedlungsterritorium zu umreißen, ihre gegenständliche Kultur sowie ihre handelskulturellen und ethnischen Beziehungen zu nahen und fernen Nachbarn zu charakterisieren. Unter Verwendung naturwissenschaftlicher Untersuchungsmethoden sind die Herstellungsverfahren von geschmiedeten Erzeugnissen sowie die Zusammensetzung von Kupferlegierungen bekannt, aus denen Schmucksachen angefertigt wurden.
Die Besiedlung des nordwestlichen Ladogasee-Gebiets und südöstlichen Finnlands erfolgte schon im Mesolithikum vor etwa 8.000 Jahren. Die Frage über die Herkunft der Urkarelier bleibt jedoch noch offen, weil archäologische Materialien zur Frühgeschichte der Karelier noch spärlich sind. Die Forscher kamen zum Schluß, daß die frühzeitlichen Karelier eine qualitativ neue Gemeinschaft darstellen, die im 11.- 12. Jahrhundert auf der Basis der örtlichen und westfinnischen Bevölkerung sowie der aus dem südöstlichen Ladogaseegebiet Eingewanderten entstanden war. Meinungsverschiedenheiten bestehen bei der Einschätzung des vorherrschenden Einflusses dieser oder jener Komponente. Inzwischen wurden in verschiedenen humanistischen Wissensbereichen bedeutsame Argumente für eine frühere Herausbildung der karelischen Gemeinschaft vorgetragen. Die gegenständliche Kultur der aus dem 1. Jahrtausend stammenden Denkmäler im nordwestlichen Ladogaseegebiet spricht überzeugend dafür, daß die Herkunft der durch das Ethnonym "Korela" vereinigten ostseefinnischen Volksstämme eng an die Karelische Landenge gebunden ist.
Die 12. - 15. Jahrhunderte weisen die Blütezeit der besonderen und persönlichen karelischen Kultur auf. Von Archäologen sind Einzelgräber und Grabstätten, Depots von Gegenständen und Münzen, zufällige Funde und Siedlungsplätze untersucht worden. Karelische Siedlungsplätze aus dem 12. bis 15. Jahrhundert lagen am Ufer einer Ladogaseebucht (Hämeenlahti), eines kleinen Sees (Suur-Mikli), auf Flußinseln (Käkisalmi, Tiuri),
an Flußufern, 1-2 km weit von deren Einmündung in den Ladogasee (Paaso, Kurkijoki). Komplizierte außenpolitische
Verhältnisse sowie ständige Gefahr eines feindlichen Einbruchs bedingten die Auswahl von Wohnplätzen. Deshalb wurden schwer zugängliche natürliche Anhöhen mit steilen Abhängen benutzt, die man mit Hilfsanlagen aus Stein und Holz befestigte. Solche Wohnplätze nannte man "linnavuori" und "linnamäki". Es bestanden auch Siedlungsplätze ohne Befestigungsanlagen - .
In den siebziger Jahren wurden vom Verfasser archäologische Ausgrabungen auf drei karelischen Siedlungsplätzen durchgeführt: Paaso (Sortavala), Lopotti (Kurkijoki), Tiurinlinna (Räisälä).
Der Ringwall Paaso liegt zwischen der Stadt Sortavala und der Siedlung Helylä an einer 80 m hohen Anhöhe, 1 km weit vom Zusammenfluß der Tohmajoki und Helylänjoki, unweit der Einmündung des letztgenannten Flusses in den Ladogasee. Die Anhöhe hat eine offene felsige Kuppe und steile Felsabhänge, nur die südliche Seite fällt flach ab, darum wurde sie mit zwei kleinen Wällen befestigt, zwischen denen höchstwahrscheinlich ein Tor errichtet war. Außerdem bildeten die Wohnbauten selbst, schachbrettförmig angeordnet, eine einheitliche Verteidigungslinie. Die Häuser hatten Fundamente aus Geröllsteinen (ohne Mörtel verarbeitet) und waren aus Holz. Sie hatten Feuerstellen und Heizöfen.
Die Einwohner wählten einen sehr günstigen Ansiedlungsplatz - am Fuße lagen für den Ackerbau geeignete
Bodenflächen, die Flüsse gewährleisteten die Verbindung mit dem Ladogasee und entlegenen nördlichen Ortschaften, vom Berg aus hatte man einen guten Überblick über die umgebende Wasserfläche, so daß kein feindlicher Überraschungsangriff möglich war.
Im 10. bis 11. Jahrhundert lag auf dieser Anhöhe eine Grabstätte mit Leichenbränden, im 12. bis 13. Jahrhundert eine Ansiedlung. Bei archäologischen Ausgrabungen wurden Gegenstände geborgen, die für die
frühzeitliche karelische Kultur typisch sind: Spangen-Fibeln, Kettenhalter, silberne Perlenketten, kupferne Spiralen. Gefunden wurden Haushaltsgeräte sowie Waffen: ein Schwertbruchstück, Streitäxte, Pfeil- und Speerspitzen.
Frühzeitliche karelische Bestattungsstätten lagen an südlichen Abhängen sandiger Anhöhen, gewöhnlich am Gewässer. Die Leichenniederlegung war die vorherrschende Bestattungssitte. Bestattet wurden die Toten auf einem Bretterboden, der mit Tierfellen bedeckt wurde. Der Kopf lag vorwiegend in Richtung Norden, ausnahmsweise in westlicher oder östlicher Richtung. Sowohl Frauen- als auch Männergräber weisen verschiedene Grabbeigaben auf. Am Grab vollzogen sich Gedenkritualien. Geopfert wurden dabei ein Pferd oder ein Hund, ein Schaf oder eine Kuh. Nach der Gedenkfeier wurden die Speisenüberreste in Gefäße gelegt und ans Grab gestellt. Obwohl der Einfluß des Christentums im 14. Jahrhundert bedeutend war, blieben die meisten in entlegenen Ortschaften wohnenden Karelier dem Heidentum treu.
Die in Übereinstimmung mit Materialien der karelischen Grabstätten rekonstruierte Frauenkleidung ist vielfältig in den Farbenkombinationen. Sie weist jedoch, gemeinsam mit den unterschiedlichen Schmuckstücken aus Metall, einen für die frühzeitliche karelische Kleidung gemeinsamen Stil auf.
Svetlana Ivanovna Kotshkurkina,
Muinaiskarjalan Kaivaukset
Snellman-Instituutti,
Kuopio 1995,
deutsche Kurzfassung, S. 29 ff.
Überarbeitet von Bernhard Marewski
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